Nummer 13
Nationalismus und Föderalismus in Europa heute
Von der Utopie der einfachen Lösungen
Der gegenwärtige Blick in die Zukunft ist von Ängsten und Resignation geprägt. Schuld daran ist die Krisenhaftigkeit der Gegenwart: Vergleichende Langzeitstudien und Daten zu Indikatoren wie der Ungleichheit, dem Rückgriff auf Gewalt und dem Rückschritt der Demokratie als politisches Ordnungssystem zeugen davon.
Ebenso unmissverständlich verdeutlicht der Blick auf wissenschaftliche Daten wie komplex verwoben Handlungsmuster in Politik, Recht und Gesellschaft sind, und wie gefährlich es sein kann, komplexe Probleme mit einfachen Lösungen anzugehen. Es gilt einmal mehr, was Alexander Langer in vielen und auch dem nachfolgenden Text mit spitzer Feder postulierte: „Nationalstaaten [sind] gleichzeitig zu groß und zu klein: zu groß, um tatsächlich Demokratie und Partizipation gewährleisten zu können; zu klein, um wirksam Probleme mit supranationaler Dimension (man denke nur an den Umweltschutz oder an die Sicherheitspolitik!) lösen zu können.“
Nichtsdestotrotz scheinen immer mehr Wählerinnen und Wähler einfache bzw. schnelle Lösungen für komplexe Probleme einzufordern. Europäische Parteiensysteme unterliegen dem Einfluss der Parteienfamilie der Rechtspopulisten. Handelte es sich zuerst noch um einzelne Bewegungen, welche die Strukturen und Arbeitsweise traditioneller Parteien anprangerten und als Protestphänomen galten, ist inzwischen ein in Europa fast flächendeckendes Phänomen mit Stammwählerinnen und Stammwählern entstanden. Rechtspopulistische Parteien sind zu einem stabilen Gegenwartsphänomen avanciert. Wie sehr sie aus nationalstaatlicher Perspektive auf die EU einwirken, das sieht man konkret an den 2021 eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen Ungarn und Polen.
Die repräsentative Demokratie, getragen von traditionellen Volksparteien, wird jedoch nicht nur von Rechtspopulisten herausgefordert, sondern auch von zivilem Protest, in Bereichen wie dem Klimawandel, dem Bevölkerungswachstum, der Urbanisierung, dem stetigen wirtschaftlichen Wachstum sowie den Konflikten und Kriegen, die die internationalen Beziehungen neu bedingen. Internationale und supranationale Organisationen, öffentliche Verwaltungen, politische Institutionen und Interessensvertretungen können heutzutage nicht mehr für sich beanspruchen, alleinige Träger des Gemeinwohls zu sein. Sie sind, je nach Sachlage und institutionellem Kontext, Teil des sich wandelnden politisch-gesellschaftlichen Pluralismus auf Augenhöhe.
Die Wissenschaft spricht von der Notwenigkeit der Wiederherstellung eines ungetrübten Verhältnisses zwischen den Institutionen eines aktivierenden (Wohlfahrts)Staates, das eine neue Verantwortungsteilung zwischen dem Staat und der Gesellschaft propagiert, in der das Prinzip der Selbstregulierung Vorrang hat vor der staatlichen oder hierarchischen Steuerung und die Aufgabenübernahme unter Einbindung gesellschaftspolitischer Akteure in die Problemlösung erfolgt – zwischen und über Regierungsebenen hinweg. Der Rückgriff auf einfache Lösungen wäre hierfür nicht gangbar. Denn: Zusammenhänge sind naturgemäß komplex, und genauso komplex sind die ihnen immanenten Problemstellungen und Lösungsansätze.
Vor diesem Hintergrund birgt demokratischer Föderalismus – auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene – viel Potential: Als politisches Organisationsprinzip, welches Dezentralisierung an Demokratie und Konstitutionalismus knüpft, kann er Räume schaffen, die der heutigen gesellschaftlichen Heterogenität und Komplexität gerecht werden. Solche Räume dienen je nach Kontext zur Depotenzierung von Konfliktlagen, zur Erneuerung herkömmlicher Regierungs-, Steuerungs- und Koordinierungssysteme einschließlich ihrer Strukturen, Verfahren und Instrumente, und zur Verstetigung von Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligungsverfahren, die das in der Bevölkerung vorhandene Sozialkapital prozessual in Entscheidungsfindungsprozesse einbinden. Dies könnte die Qualität von Politikstrukturen, –prozessen und –ergebnissen steigern, eine Politik des Zusammenlebens fördern und das Verhältnis zwischen den Institutionen und der Bürgerschaft wieder stärken.
Weltweit haben Staaten, die föderal organisiert sind, stetig zugenommen. Gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur etwa neun Bundestaaten, so hat sich diese Zahl fast verdreifacht. Mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung leben in Staaten, die föderal oder stark dezentral organisiert sind. Sicherlich, Föderalismus ist kein Allheilmittel, das man formelgetreu anwenden kann: föderale Systeme, die autoritäre Züge bzw. völlig dem Zweck des ethnischen Exklusivismus dienen, zeugen davon.
Nichtsdestotrotz gilt: Föderalismus ist eine dynamische Art des gemeinsamen und doch differenzierten Regierens (self-rule and shared rule), welche – sofern Teilnahmerechte ausgewogen verfasst sind und somit die Teilhabe aller Akteure garantiert ist – Potential für eine Politik des Zusammenlebens birgt und hierfür eben Räume schafft, die mittels argumentativer Suche nach und die Gewichtung von Gründen für und gegen Handlungsoptionen zu einer durchlässigeren, effizienteren und effektiveren Leistungsfähigkeit politischer Systeme beitragen. Eine Politik des Zusammenlebens, die Deliberation (aus dem Lateinischen „Beratschlagung“ oder „Überlegung“) als transversalen Wert anerkannt.
Elisabeth Alber
>> "Nationalismus und Föderalismus in Europa heute" Alexander Langer
05. November 1991
Foto: Venice Glass Week 2025