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Alexander-Langer-Preis 2015 An den Verein: Adopt in Srebrenica

2.7.2015, Begründung

Adopt ist eine Gruppe von jungen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die sich seit 2005 schrittweise entwickelt hat. Der Verein wurde von der Alexander-Langer-Stiftung mit der NRO Tuzlanska Amica und allen voran die aus Srebrenica stammende Psychiaterin Irfanka Pašagić, die für ihre Arbeit für die Kriegsopfer im selben Jahr mit dem Alexander-Langer-Preis ausgezeichnet wurde, zusammen mit anderen Frauen aus Tuzla ins Leben gerufen.
Adopt ist im Vergleich zu unseren vorhergehenden Preisträgern anders. Viele von ihnen haben sich durch ihre Arbeit in Notsituationen, Naturkatastrophen, Bürgerkriegen oder sanitären Notfällen irgendwo in der Welt hervorgetan. Alle von sind ausgewählt worden, weil sie die Ideale von Alex teilten, auch wenn sie ihn nicht direkt kannten.
Adopt ist hingegen gewissermaßen eine „Hausgeburt“, stammt direkt aus dem Herzen der Stiftung,  knüpft unmittelbar an die Lebenserfahrungen von Alex an und tut dies in einer Stadt in tiefer Krise, in der ein Wiederaufbau des wirtschaftlichen und sozialen Gefüges noch immer in weiter Ferne scheint und noch viele Menschen zwischen Ärger und trennende Misstrauen gespalten sind und viele die Hoffnung auf die Zukunft aufgegeben haben.  

Um einen Beitrag zur Verbesserung dieser Situation zu leisten, hat sich Adopt zwei große Ziele gesetzt: Das erste ist, über Srebrenica zu sprechen. Der Name der Stadt wird zwar gerne als Symbol für eine Tragödie verwendet, die es nie mehr geben darf und das Europäische Parlament hat den 11. Juli zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Srebrenica-Genozids erklärt. Nach Abschluss der Feierlichkeiten fällt die Stadt aber jedes Jahr wieder in ihre Einsamkeit und in eine Isolation zurück, die selbst in einem Land wie Bosnien, das von Europa mit Geld versorgt und anschließend sich selbst überlassen wurde, noch seiner gleichen sucht.
Das zweite Ziel von Adopt ist, mit Srebrenica zu arbeiten.  Dort, wo die Wunde noch offen ist, muss man sich dem Schmerz stellen, wenn man Brücken zwischen den entgegen gesetzten, bitteren Erinnerungen bauen möchte.
Die weise und glückliche Entscheidung von Adopt, diesen Weg zu gehen, entsprang nicht dem naiven Wunsch „irgendetwas tun zu müssen“, sondern war ein gut überlegter, weiser Schritt, in dem die Hartnäckigkeit, mit der sich die Mitglieder von Anfang an als Keimling einer gemischten Gruppe verstanden haben, wohl ausschlaggebend war. In seinen Zehn Punkten für das Zusammenleben bezeichnet Alex diese gemischten Gruppen als der beste Weg und das Zusammenleben in all seinen Aspekten praktisch und pionierhaft zu erproben und zu üben. Die Verbindung von Adopt zur Stiftung war also maßgeblich, ebenso wie jene zu Irfanka, die ihre Kenntnisse und Erfahrungen mit den jungen Aktivisten teilen und ihnen die Dynamiken der Stadt veranschaulichte. In dieser Stadt, in der Leid und Zerstörung von der Grausamkeit der Menschen verursacht wurden, war zudem die Fähigkeit aller Akteure, gewaltfrei mit Konflikten umzugehen, bestimmend.

Die Bilanz der 10 Jahre Adopt Srebrenica ist durchaus positiv und lässt gut hoffen. Adopt hat ein Dokumentationszentrum für die Sammlung von Materialien jeder Art – persönliche Geschichten, Bilder, Bücher, Audio- und Videoaufnahmen – aufgebaut und die Menschen dazu angehalten, von ihren Erlebnissen zu erzählen, damit bekannt wird, wie der Alltag in Srebrenica vor dem Krieg war und die Besucher einen Bezug zur Stadt und zum Land finden können. Um es den Bewohnern der Stadt zu ermöglichen, mit ihren ausgewanderten Verwandten und Freunden in Verbindung zu bleiben, betreibt die Gruppe einen kostenlosen Skype-Dienst und organisiert Sprachkurse. Mit Srebrenica zu arbeiten bedeutet für die Gruppe, der Rhetorik des „nie wieder“, tiefgehendes Wissen und umfassendes Verständnis der Stadt und ihrer Geschichte entgegenzusetzen, um dadurch die Dynamiken, die das Leben in der Stadt vergiften, zu enttarnen und entschärfen.
Seit 2007 organisiert Adopt jeden Sommer die Internationale Woche der Erinnerung, mit Workshops (auch im Theaterbereich), Konferenzen, Filmen und Konzerten, die sowohl von der Lokalbevölkerung als auch von den Teilnehmern der Woche besucht werden. Die Studierenden des von der Bozner Berufsbildung und der Universität Bologna angebotenen Masterlehrgangs für Friedensarbeiter und Konfliktmediatoren nehmen seit Jahren an dieser Woche Teil. Srebrenica und Bosnien sind inzwischen zu einem gewichtigen Studiengebiet im ihrem Lehrplan geworden.
Die Ziele, von Srebrenica zu sprechen und mit Srebrenica zu arbeiten scheinen sich während der Internationalen Wochen zu verschmelzen und das gilt auch für die zahlreichen weiteren Projekte der Gruppe: die Organisation von Studienreisen nach Bosnien-Herzegowina, Partnerschaften mit öffentlichen Verwaltungen, Schulen, Vereinen, internationalen und lokalen Forschungszentren, aber auch die organisierte Teilnahme an der Gedenkfeier für die Opfer und die Zusammenarbeit mit anderen Städten in Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kroatien, die vor allem durch die wertvolle Unterstützung von Tuzlanka Amica ermöglicht wird. Heute ist Adopt auf lokaler sowie internationaler Ebene ein vollwertiger Vertreter des Netzwerks von Vereinen und Gruppen, die sich dem „interethnischen“ Zusammenleben voll zuwenden. Adopt gründet nicht nur auf der Idee, die lokale Wirtschaft zu fördern – man bedenke dabei die vielen kleinen interethnischen Betriebe. Die Gruppe hat sich vor allem der Idee verschrieben, Beziehungen zu knüpfen, zu verbessern und zu pflegen, den Menschen zuzuhören und nach einer Sprache des Friedens zu suchen. Es ist ein politisches Projekt, sofern man damit – wie in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes – die Pflege des Gemeinwohls versteht. Es ist jedoch ein schwieriges und anstrengendes Unterfangen ohne endgültige Sicherheit.

Eine Teilnehmerin hat erklärt, dass Adopt kein Projekt, sondern vielmehr ein Prozess ist: langsam, tief und sanft (das Langersche lentius, profundius, suavius). Adopt hat sich niemals von Begriffen wie Effizienz oder Sichtbarkeit einnehmen lassen, denn angesichts der Ernsthaftigkeit der zu bewältigenden Aufgaben wären dies sinnlose Kriterien. Die Bewahrung der Erinnerung, die Dokumentation und das Zeugnis über das Geschehene bergen die Trauer der Vergangenheit und den Schmerz der Gegenwart in sich und beide sind ein wesentlicher Teil der Identität.
In einer Gesellschaft, in der das ethnische Element eine Bevölkerung, die sich vorher nur aufgrund der Religionszugehörigkeit definierte, gespalten hat, ist nichts tückischer als diese Last, die bis heute das Leben vieler Menschen bestimmt und andere Konflikte überlagert, wie etwa jene innerhalb der einzelnen Gemeinschaften, zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen und zwischen der individuellen und kollektiven Identität.

Die jungen Menschen, an die sich Adopt in erster Linie richtet, sind, mit ihren echten und erfundenen Traditionen, ihren Familiengeschichten, den Interpretationen der Gruppen von Gleichaltrigen, den Loyalitätsansprüchen der einzelnen Parteien am meisten ausgesetzt, haben aber auch den Wunsch nach Neuem und gleichzeitig die Angst, von den eigenen Leuten als Verräter angesehen zu werden. Die Gruppe selbst, die seit den Anfängen den verschiedenen Gesichtspunkten der anderen mit Offenheit begegnet, ist nicht vor internen Spannungen, Missverständnissen und dem in derartigen Situationen oft stattfindenden Teilnehmerwechsel gefeit. Eine gemischte Gruppe, in der es allzu idyllisch zugeht, ist aller Wahrscheinlichkeit nach von einer Partei vereinnahmt. Dass es dem Verein gut geht liegt wohl am Bewusstsein, dass ein Brückenbauer viele Eigenschaften haben muss: Mut, Ehrlichkeit, die Fähigkeit zur Selbstkritik und ein bisschen jenes Talents, das man besitzen muss, wenn man einen gesellschaftlichen Auftrag erfüllt, und das darin besteht, auch unerwartete Schwierigkeiten zu meistern, mit Respekt vor den anderen und ohne dabei selber zu Grunde zu gehen. Und hierzu eine Überlegung, die offensichtlich scheinen mag, in ihrem Weitblick aber meist vernachlässigt wird: eine Brücke stützt sich auf zwei Ufer. Wenn sie sich nur mit einem identifiziert, verliert sie das Gleichgewicht. Dies geschieht auch wenn man sich der Illusion hingibt, dass die Brücke noch steht, obwohl sie vielleicht schon in Trümmern liegt. Alle kennen wir NGOs, die sich unvorsichtigerweise für die ihrer Meinung nach schwächere Seite Partei ergriffen haben.  Alle kennen wir Organisationen, die den Unterschied zwischen einem Krieg und einem Massaker von Wehrlosen nicht begriffen haben.
Unsere Gruppe konnte dies vermieden. „Ich glaube, dass wir jetzt eine starke Gruppe mit gutem Zusammenhalt sind“, meinte ein junger Teilnehmer anlässlich der Gründung des Vereins. Und ein Mädchen fügte hinzu: „Nun sind wir es, die Verantwortung übernehmen müssen.“ „Wir von der Gruppe“, meinte sie wohl. Hoffentlich wird in Zukunft daraus ein „wir aus Srebrenica“ und ein „wir aus Bosnien“.

Der Präsident des wissenschaftlichen Beirats: Fabio Levi
Der Präsident der Stiftung: Edi Rabini

9.000 € der 10.000, mit denen der Preis dotiert ist, wurden von der Stiftung Südtiroler Sparkasse, Bozen, gespendet.

Das Wissenschafts- und Garantiekomitee der Stiftung besteht aus:
Fabio Levi (Präsident), Bettina Foa (Koordinatorin), Anna Bravo (Sprecherin), Anna Maria Gentili, Andrea Lollini, Christoph Baker, Grazia Barbiero, Francesco Palermo, Gianni Tamino, Karin Abram, Mao Valpiana, Margit Pieber, Maria Bacchi, Marianella Sclavi, Marijana Grandits, Massimo Luciani, Paolo Bergamaschi, Pinuccia Montanari, Roberto De Bernardis.

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