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Lieber Christophorus!

1.3.1990, in Lettere 2000,

Ich weiß nicht, ob Du Dich an mich erinnern wirst, so wie ich mich an Dich erinnere. Als Junge sah ich Dich an den Außenwänden vieler Bergkapellen abgebildet. Die Fresken waren oft verblasst, dennoch sichtbar. Du – ein riesengroßer, kräftiger, bärtiger, alter Mann – hattest ein Kind auf deinen Schultern, das Du gerade von einem Flussufer zum anderen getragen hast. Dabei sah man Dir an, dass Dir das die größte Anstrengung und gleichzeitig die größte Freude bereitete. Ich hab mir Deine Geschichte sehr oft von meiner Mutter erzählen lassen. Sie war zwar keine Expertin in Heiligenlegenden, aber ihren Erzählungen hörten wir immer gerne zu. So hab ich eigentlich nie Deinen richtigen Namen oder Deinen offiziellen Platz innerhalb der Kirchenheiligen in Erfahrung bringen können (und ich fürchte, du bist einer kürzlich durchgeführten Säuberung zum Opfer gefallen, die Dich zu einem zweitrangigen oder gar erfundenen Heiligen degradiert hat), aber an Deine Geschichte kann ich mich noch gut erinnern, zumindest an deren Kernpunkte.

Du warst einer, der in sich viel Kraft verspürte und große Lust zum Handeln hatte, der, nachdem er lange Zeit den berühmtesten und mächtigsten Herrschern seiner Zeit treu und ehrenvoll als Soldat gedient hatte, sich plötzlich nicht mehr am richtigen Platz fühlte. Du wolltest nur einem Herrn dienen, der die Mühen wirklich wert war, Du wolltest dich nur in den Dienst einer wirklich ehrenvollen Sache stellen, einer Sache, die wertvoller war als alle anderen. Vielleicht warst Du des falschen Ruhmes überdrüssig geworden und sehntest Dich nach wahrer Ehre. Ich weiß zwar nicht mehr, wie Du dazu kamst, dich am Ufer eines gefährlichen Flussüberganges niederzulassen, um Wanderer dank Deiner übermenschlichen Kraft ans andere Ufer überzusetzen, die alleine dazu nicht imstande gewesen wären. Auch hab ich vergessen, aus welchem Grund Du akzeptiert hattest, eine derart bescheidene Arbeit zu verrichten, die wohl kaum der von Dir so ersehnten ehrenvollen Aufgabe entsprach. Aber ich weiß noch genau, wie Du während Deiner stets mit Bescheidenheit verrichteten Arbeit als Fährmann eines Tages um einen Dienst gebeten wurdest, der beim ersten Blick weit unter Deinen Fähigkeiten lag: ein Kind auf Deine Schultern zu nehmen und es ans andere Ufer zu bringen. Dazu bedurfte es sicher nicht eines Riesen wie Dich, mit derart kräftigen Beinen, wie sie in zahlreichen Christophorus-Darstellungen zu sehen sind.

Erst beim Überqueren war Dir bewusst geworden, dass Du damit die schwierigste Aufgabe übernommen hattest, die jemals an Dich herangetragen worden war, und dass Du all Deine Kraft würdest aufbringen müssen, um ans andere Ufer zu gelangen. Da erst erkanntest Du, mit wem Du es zu tun gehabt hattest und dass Du den Herrn gefunden hattest, dem Du dienen wolltest. So warst Du schließlich auch zu deinem Namen gekommen. 

Wieso wende ich mich an Dich, kurz vor dem Jahr 2000? Weil ich glaube, dass sich heutzutage viele von uns in einer ähnlichen Situation befinden und fühlen, dass die ihnen bevorstehende Überquerung derart viel Kraft erfordert, dass sie - ähnlich wie Du in jener Nacht - daran zweifeln, ob sie es schaffen. Mir scheint dein Erlebnis wie eine Parabel dessen, was uns heute bevorsteht. 

Alle hehren Ziele und ehrenvollen Anliegen, die als durchaus wichtig und bedeutend angesehen wurden und für die sich viele eifrig eingesetzt hatten, haben letztlich tief enttäuscht. So viele Entscheidungen und Erfindungen, zunächst als nützlich und fruchtbar erachtet, haben sich schließlich als Fehleinschätzungen erwiesen, als Täuschungen und Selbsttäuschungen, als Misserfolge mit ungewollten Folgewirkungen (die zudem nicht mehr wiedergutzumachen sind). 

Die Chemie, die wir in Böden und Gewässern eingesetzt haben, um die Natur zu „verbessern“, fällt mittlerweile wieder auf uns zurück und wird in unseren Körpern endgelagert. Alles ist Handelsware geworden und hat seinen Preis: Es kann gekauft, verkauft, angemietet werden - sogar das (menschliche) Blut, die Organe (sowohl der Lebenden als auch der Toten) und der Mutterleib (für eine sog. Leihmutterschaft). Alles ist machbar geworden: von der Weltraumfahrt bis zur perfekten Tötungsmaschinerie in Auschwitz, vom künstlichen Schnee bis zur genetischen Manipulation des Lebens im Labor. 

Das Motto der neuzeitlichen Olympischen Spiele ist zum obersten allgemein gültigen Gesetz unserer Zivilisation geworden, die sich der unbegrenzten Expansion verschrieben hat: citius, altius, fortius, schneller, höher, stärker … produzieren, verbrauchen, sich bewegen, sich ausbilden - kurz gesagt: Konkurrenz und Wettkampf. Der Drang nach mehr herrscht bedenkenlos vor, der Wettkampf bildet den allgemein anerkannten und emphatisierten Daseinsgrund. Diese Entwicklung scheint irreversibel und unaufhaltbar zu sein. Das Überschreiten von Limits, die ständige Erweiterung von Grenzen und die laufende Wachstumsförderung kennzeichnen diese Zeit des Fortschritts, in der das Gesetz von Kosten und Nutzen - „Wirtschaft“ genannt - sowie das Gesetz der Wissenschaft - „Technologie“ genannt - vorherrschen; da kümmert es auch wenig, wenn es sich häufig um eine Wirtschaft  und Technologie des Verderbens handelte. 

Was, lieber Christophorus, müsste heute jemand tun, der Deinem Beispiel folgen möchte? Welches wäre die ehrenvolle Aufgabe, für die es sich lohnen würde, alle seine Kraft einzusetzen, auch auf die Gefahr hin, in den Augen der Menschen Ruhm und Ansehen zu verlieren und in einer Hütte am Flussufer zu leben? Welches ist der Fluss, der sich nur schwer überqueren lässt, welches das Kind, das nur auf den ersten Blick leicht zu sein scheint, in Wirklichkeit aber mit äußerster Kraft und Willensstärke über den Fluss zu tragen ist? 

Der Kernpunkt der Überfahrt, die uns bevorsteht, ist wahrscheinlich der Übergang von einer Zivilisation des „immer mehr“ zu einer des „es genügt“ oder gar des „vielleicht ist’s schon zu viel“. Nach Jahrhunderten des Fortschritts, in denen der Sinn der Geschichte und der irdischen Hoffnungen in Wachstum und im Vorwärtsschreiten gesehen wurden, mag es tatsächlich unsinnig erscheinen, nun „zurückzuschrauben“, d.h. umzukehren oder jedenfalls den Hang zum citius, altius, fortius zu bremsen. Denn wie viele mittlerweile erahnen und zugeben müssen, ist dieser Hang selbstzerstörerisch geworden (dies bezeugen der Treibhauseffekt, die Umweltverschmutzung, die zunehmende Rodung der Wälder, die Flut von Chemikalien, die sich unserer Kontrolle entziehen - und eine lange Liste weiterer Schäden, die der Umwelt und der Menschheit bereits entstanden sind). 

Wir müssen wieder lernen, uns zu mäßigen und zu begrenzen. Dazu gehört: die Geschwindigkeit von Wachstum und die Förderung zu drosseln, die Umweltverschmutzung, die Produktionsrate sowie den Konsum zu reduzieren, die Belastungen für die Umwelt zu vermindern sowie jede Form der Gewalt abzubauen. Wir müssen dem Motto „schneller, höher, stärker“ einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung gegenüberstellen, wir müssen einen Gang zurückschalten. Es ist schwer, dies zu akzeptieren und umzusetzen, ja, es fällt sogar schwer, dies auszusprechen. 

Wohl deswegen werden weiterhin Wege beschritten, die eine Quadratur des Kreises versuchen: so ist etwa von „Nachhaltigkeit“ oder von „qualitativem und nicht quantitativem Wachstum“ die Rede, wobei letztlich alles verschwommen bleibt, sobald es darum geht, konkret den Fluss der Umkehr zu überqueren… 

Aber genau das ist es, was von uns zum Schutz unseres Planeten und aus Gründen der Gerechtigkeit verlangt wird: Wir können nicht einfach die durchschnittliche Umweltbelastung eines Menschen der westlichen industrialisierten Welt weiterhin x-fach erhöhen, ohne den völligen Zusammenbruch der Umwelt zu riskieren. Und wir können uns auch nicht weiterhin erlauben, dass 1/5 der Menschheit auf Kosten der restlichen 4/5 (und darüber hinaus auf Kosten der Natur und unserer Nachkommen) lebt.

Der Übergang von einer vom Wettkampf und von ständiger Grenzüberschreitung geprägten Zivilisation, zu einer Zivilisation des „enoughness“, der Genügsamkeit und Selbstbescheidung, der Schlichtheit und Einfachheit, scheint im Grunde ganz einfach und doch gleichzeitig fast undurchführbar zu sein. Es genügt an die enorme Herausforderung zu denken, der sich ein/e Raucher/in, eine Drogenabhängige/r oder ein/e Alkoholiker/in stellt, der/die von seiner/ihrer Abhängigkeit loskommen möchte. Daran ändert auch nichts, dass sie sich möglicherweise der Gefahren ihres untragbaren Lebenswandels durchaus bewusst sind, und vielleicht bereits deutliche Warnzeichen ihres Körpers (Herzinfarkt, Krisen …) erhalten haben. Auch dem Arzt gelingt es im Allgemeinen nicht, sie zur Umkehr zu bewegen, indem er ihnen die tödlichen und selbstzerstörerischen Gefahren ihrer Sucht vor Augen führt. Lieber leben sie mit ihrer Selbstverstümmelung und versuchen, mit irgendwelchen Mittelchen die unvermeidlich bevorstehende Abrechnung ein wenig hinauszuschieben. 

Siehst Du, lieber Christophorus, deshalb bist Du mir eingefallen: Du hast darauf verzichtet, Dich Deiner ganzen Kraft zu bedienen und hast Dich damit begnügt, einen bescheidenen und nicht sonderlich ruhmreichen Dienst zu verrichten. Du hast deine felsenfeste Überzeugung, deine enorme Kraft und deine ganze Selbstdisziplin in den Dienst eines hohen Anliegens gestellt, das nach außen hin bescheiden und einfach erscheinen mochte. Man hat dich – wohl nicht ganz zu Recht – zum Schutzpatron der Autofahrer gemacht (nachdem du vorher richtigerweise der Schutzpatron der Träger gewesen warst). Heutzutage solltest du wohl eher als Vorbild jener gelten, die auf das Auto verzichten und lieber das Rad und den Zug benutzen oder zu Fuß gehen. Und der Fluss, den es zu überqueren gilt, ist jener, der das Ufer des technischen Perfektionismus von jenem der Unabhängigkeit von technologischen Hilfsmitteln trennt. Wir werden lernen müssen, von vielen auf wenige Kilowattstunden überzuwechseln, von einer künstlich geschaffenen Überernährung auf eine gerechtere, sozial und ökologisch verträglichere Ernährung, von der Ultraschallgeschwindigkeit auf menschlichere und sparsamere Rhythmen, von einem Zuviel an Wärme- und Abfallproduktion zu einer besseren Harmonie mit der Natur. Kurz gesagt: wir müssen lernen, Grenzen nicht ständig zu überschreiten, sondern diese zu respektieren und im Gegensatz zum immer mehr Künstlich-Artifiziellen unserer Gesellschaft, das Einfache und Schlichte wiederzuentdecken.  

Allein die Angst vor der Umweltkatastrophe oder die ersten Zeichen des Zusammenbruchs unserer Zivilisation (man denke an Tschernobyl, die Algen im Adriatischen Meer, das Klima, das verrückt spielt oder die Erdölmengen, die bei Unfällen ins Meer gelangen) werden uns nicht zur Umkehr bewegen. Was es braucht ist vielmehr einen positiven Impuls, jenem gleich, der dich dazu führte, dein Leben zu ändern und nach einem neuen und höheren Sinn zu suchen. Deine Entscheidung, auf Muskelkraft zu verzichten und dich in den Dienst des Kindes zu stellen, ist eine schöne Parabel auf die „ökologische Wende“, die heute unausweichlich ist. 

(Übersetzung von Christine Stufferin, Martin Silbernagl)

 
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