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Zeichen der Zeit

1.1.1967, Aus: die brücke Nr. 1
Wer heute versuchen will, die Kultur der Gegenwart und die Fragen unseres Zeitalters zu verstehen, muß sich immer mehr daran gewöhnen, entsprechende Wege der Interpretation zu finden. Vor allem tut eine ehrliche Hinwendung zur Geschichte not: das Absolutheitsdenken vergangener Zeiten - des Mittelalters oder des barocken und aufklärerischen Rationalismus' etwa - ist durchaus und gründlich in Krise, und die Menschheit fragt heute nicht mehr nach dem "Ding an sich", sondern nach existentieller, Erfahrung gewordener Wirklichkeit. Keine Ideologie mehr kann es sich leisten, in außergeschichtlicher "Wesentlichkeit" ihr Dasein zu sonnen; und auch die Werte und Überzeugungen unserer Zeit müssen sich geschichtlich bewähren, wenn sie gelten wollen.

Eine selbstverständliche und durchaus natürliche Folge derartiger Einstellung ist die weitgehend pluralistische Struktur aller Formen menschlicher Erfahrung: das zeigt sich in Glaubenslehren und Ideologien, in Kunst und Literatur, in den Sozialstrukturen und auch in den Werten und Wertmaßstäben der Gegenwart. Es gibt keine einheitlich verbindliche Anhaltspunkte mehr, und dennoch müssen die Menschen heute mehr als früher ihren Weg gemeinsam gegen und miteinander leben und wirken.

Darum ist heute von jedem Menschen ein ganz besonderer Sinn für die Geschichte schlechthin, für das Geschehen unserer Zeit gefordert. Nur wer die "Zeichen der Zeit" zu lesen und zu deuten versteht, kann sich, seine Mitmenschen und unsere Welt heute verstehe, begreifen und auf sie in zeitgemäßer Weise einwirken. Wer es sich heute noch leistete, an diesen "Zeichen" achtlos vorüber zu gehen, verschlösse sich nicht nur jedem echten und gültigen Kulturschaffen, sondern bliebe auch wesentliche ein Fremdling in seiner Zeit. Jedes Vertrösten auf zeitlose oder außergeschichtliche Werte bliebe im Grunde Flucht dieses Femdlings aus der Welt, wenn er nicht den Mut hätte, sein Dasein in Beziehung zur Geschichtlichkeit zu stellen.

Und ich fürchte, daß Südtirol schwer an dieser Krankheit leidet und daß den Menschen in unserem Lande oft aus Kurzsichtigkeit und oft auch aus bösem Willen der Blick auf die "Zeichen der Zeit" verschlossen oder unerträglich eingeengt wird. Darum ist es vielleicht nicht fruchtlos, mit diesen Zeilen einmal den Ausblick über den Gartenzaun zu wagen, auch auf die Gefahr hin, näherliegende Zeichen für den Augenblick beiseite zu lassen. Deshalb suche ich hier nach allgemeineren und weithin wahrnehmbaren Zeichen, die mir große Hoffnungen für das Menschsein und die Kultur unserer Tage in sich zu tragen scheinen.

Das erste Zeichen, das ich sehe - und das eine unmittelbare Frucht des modernen Pluralismus ist - nennt sich Koexistenz. Der Ausdruck ist nun einmal üblich, obwohl er nicht sehr schön und nicht besonders inhaltsreich ist. Aber etwas vermag er auszusagen: Menschen verschiedener Anschauungen, verschieden gearteter Ideologien, verschieden regierte Staaten und verschieden geordnete Sozialsystem könne nebeneinander bestehe, wenn sie auf gewaltsam verfolgte Absolutheitsansprüche verzichten. Es ist noch nicht sehr viel, einfach nebeneinander zu bestehen, solange kein miteinander daraus wird, doch bedeutet Koexistenz schon einen ersten Schritt auf dem Weg menschlichen Zusammenseins. Oft wird dann echte Mitbeteiligung daraus, Mitsprache aller und Achtung und Rücksicht für die Meinungen und Wünsche der anderen: hierin liegt der große und mehr als politisch kontingente Wert der Demokratie als Lebensform und als Geisteshaltung menschlicher Gemeinsamkeit. Es handelt sich da nicht um das eine oder andere konkrete staatsrechtliche System sondern um eine ganze Einstellung, der politische, kulturelle, soziale und auch künstlerische Auffassungen zugrunde liegen und sie wesentlich prägen. Ein Zeichen der Zeit voll der Hoffnung für alle jene, die jahrtausendelang von echter Mitbeteiligung am gemeinschaftlichen Leben ausgeschlossen waren und die entweder nichts zu sagen hatten oder einfach alles von oben vorgekaut und vorgeschrieben - "von Gottes Gnaden" - bekamen. Demokratie also als ein wichtiges Mittel zur Verwirklichung der Menschenwürde für alle: und dies trotz der Schwierigkeiten, die demokratische Geisteshaltung zweifellos mit sich bringt, da eben auf alle Rücksicht genommen werden muß. Es ist wohl klar, daß Demokratie als Kulturform nicht einfach mit der Herrschaft der Mehrheit gleichgesetzt werden kann.

Ein weiters hoffnungsvolles Zeichen schient mir der neu entdeckte Wert, den man der Gemeinschaft zuerkennt: es gibt Leute, die von Vermassung reden und Gleichschaltung als Schreckgespenst an die Wände malen. Doch handelt es sich meistens entweder um Vertreter eines heute schwer haltbaren Individualismus aus anderen Zeiten oder um die letzten "Aristokratien", die von Nivellierung spreche, sobald sie fürchte, daß gewisse Werte nun für alle zugänglich werden, die früher wenigen vorbehalten waren. Bestimmt geht es oft nicht ohne eine gewisse Verflachung, doch handelt es sich hier einfach um Entscheidungen, welchem Werte man den Vorrang geben soll. Wenn man an die Würde aller Menschen glaubt, dürfte die Wahl nicht schwer fallen. - Gemeinschaft heißt, den eigenen Weg mit anderen gehe, die eigenen Erfahrungen mit anderen teilen: heißt letztlich, aus den Menschen immer mehr jene Familie machen, von der zu sprechen in früheren Zeiten vielleicht Predigern und Schwärmern vorbehalten war, die aber heute angesichts der Bevölkerungsentwicklung und der gesamten Weltlage einfach eine Notwendigkeit geworden ist. So zeigt sich mitten im Pluralismus (und gerade durch ihn richtig ermöglicht) eine ganze Reihe von Zügen zur Einheit: aber zu einer Einheit in Freiheit, nicht in erzwungener Einförmigkeit.

Gemeinschaft und Demokratie können ihre volle Reife nur erlange, wo Menschen zu eigener Verantwortlichkeit und zur Freiheit gelangt sind. Die Zeit des Paternalismus, des Autoritätsglaubens, des passiven Hinnehmens der Erfahrungen und Vorschriften anderer, des "Erleidens" der Obrigkeit und der Delegierung von Macht und Verantwortung an andere und ohne Kontrolle, ist vorbei oder muß beendet werden. Im Gegenteil scheint sich sogar eine neue Moral abzuzeichnen, die nicht mehr allein die "gute Absicht" (nach christlicher Tradition) oder den geschichtliche Erfolg (nach marxistischer Tradition) vor Augen hat, sondern die sich an der Eigenverantwortung des Menschen mißt, ohne sie ihm abzunehmen und ihn der Verfremdung auszuliefern. - Auch auf gesellschaftlicher Ebene kommt der eigenen Verantwortlichkeit ein immer größeres Gewicht zu: man denke nur an die Wichtigkeit der kleinen und mittleren Sozialstrukturen (auch im politischen Leben), die allein in einer immer größer werdenden Menschengemeinschaft dafür zu bürgen vermögen, daß sich die Besonderheit und Vielfalt nicht verliert, sondern im Gegenteil richtig erfüllen kann.

Eine ganz besondere Bedeutung kommt einem großen und reichhaltigen Zeichen der Zeit zu: es handelt sich um die Erkenntnis des wesentlichen Wertes der Kultur für ein echt menschliches Dasein. Es gab Zeiten, wo Kultur als Luxus angesehen wurde, und sie sind noch nicht überall vorüber. Es gab und gibt Menschen, die in der Kultur einfach die Konservierung gewisser Traditionen sehen und deshalb glauben, Grenzen setzen zu müssen und bedachtsame Lenkung walten zu lassen. In all diesen Fällen werde entweder der Mensch in Funktion der Kultur gesehen (statt umgekehrt) oder die Kultur gegen den Menschen mißbraucht. In Wirklichkeit scheint mir, daß Kultur etwas ähnliches wie Reife ist: eine notwendige Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit, ohne die Eigenverantwortung und Demokratie gar nicht möglich sind. Letztlich ist dann Kultur eigenes Urteilsvermögen, Selbst- und Zeitverständnis, Sinn für die Dinge und die Geschichte, menschliches Schöpfertum, Mut zum eigenen Denken und Bekenntnis eigener Beschränkung. Wenn dieser Wert für den Menschen wesentlich ist, dann müssen ihm die Mittel gegeben werden, Kultur "zu betreiben", nicht mit Kultur "vollgestopft zu werden".

Neben der Kultur hat auch die Politik einen neuen Sinn gefunden und gehört zu den wichtigen Zeichen der Zeit: auch sie darf nicht mehr als Vorrecht oder Experimentierfeld (oder Futterkrippe) einiger weniger angesehen werden, denen die vielen einfach ihren Anteil an der Gemeinschaft überantworten, sondern muß in richtiger Weise als Teilnahme und Mitwissen an den Angelegenheiten des Gemeinwohles verstanden werden. Wer sich gegen "Politisierung" sträubt, will eine Zustand fortdauern lassen, in dem vielleicht über Radrennen oder leichte Musik öffentlich diskutiert wird, die Lebensfragen der Gemeinschaft aber unter wenigen "ausgehandelt" werden, ohne die Gemeinschaft selbst zu fragen, zu informieren oder irgendwie teilhaben zu lassen. Es zeigt von äußerster Kurzsichtigkeit, wenn man behauptet, einfach seine Pflicht zu tun, im übrigen aber für Politik kein Interesse zu haben. So fährt man vielleicht fort, die ganz kleinen Einzelproblemchen zu lösen, ohne zu denken, daß Politik dazu da ist, die Angelegenheiten aller auf weitere Sicht hinaus zu ordnen und zu lenken. Man spricht vom schmutzigen Geschäft, und tut dann alles, um die Gauner ungestört unter sich zu lasen. Und was im öffentlichen, politischen Leben vorfällt, ist oft so, als ob es uns nichts anginge, als ob wir in einem anderen Boot säßen.

Ferner scheint mir ,daß niemand heute ignorieren kann, daß sämtliche Probleme neue Ausmaße angenommen haben. Hier ist es wie mit der Politik: ein überlieferter Egoismus oder Provinzialismus - der sich vielleicht als Gleichgültigkeit tarnt - engt den Blick dermaßen ein, daß nur ganz kleine Ausschnitte der verschiedenen Fragen gesehen werden. Was Wunder, wenn der Tiroler nicht über Tirol hinaus sieht und der Schweizer kaum über seinen Kanton! Solange wir uns nicht gewöhnen, daß die meisten unserer Probleme in weltweiten Zusammenhängen stehen, fehlt uns durchaus der geschichtliche Sinn für die Zeit und die Ereignisse. Niemand kann es sich mehr leisten, den Inselbewohner zu spielen. Deshalb dürfte auch ein ganz wichtiges Zeichen der Zeit - mehr eine Hoffnung denn Wirklichkeit - nicht entgehen: das Bemühen um den Frieden. Denn es ist immer klarer geworden, daß sämtliche Werte heute vom Frieden abhängen und in größerer Gefahr als je zuvor sind. Auch scheinbar unvereinbare Werte (z. B. die Gerechtigkeit, die Sicherheit ...) hängen wesentlich vom Frieden ab. Darum ist es für alle dringend geworden, am Frieden mitzubauen, auf allen Ebenen und in allen Lagen, auch in Südtirol. Mit dem Feuer zu spielen, um die Reaktionen zu erproben, ist zu gefährlich geworden.

Als weiteres Kennzeichen unserer Zeit kann wohl der Dialog genannt werden: einseitige Behauptungen und predigthafte Monologe überzeugen nicht mehr. Auch hier verlangt die Menschenwürde, daß in wahrer Mitbeteiligung gesucht und gesprochen werde: und so sehen wir heute auf allen Seiten beginnende Dialoge. Sich dagegen zu wehren oder sich zu verschließen, wäre ebenfalls unzeitgemäß. Vielmehr handelt es sich darum, die Wege und die Möglichkeiten dialogischer Begegnung auszubauen und zu nutzen. Es ist unsinnig zu behaupten man könne nicht in Dialog treten, solange man nicht schon vorher genau alles wisse und seine feststehende Position bezogen habe. Das hieße, entweder den anderen "bekehren" (oder vergewaltigen) zu wollen oder aber von vorneherein auf einen Dialog zwischen Taubstummen zu rechnen.

Auch die Unsicherheit, die bestimmt zu den Charakteristiken unserer Zeit gehört, möchte ich zu den hoffnungsvollen "Zeichen" rechnen: macht sie uns doch bescheidener, offener, mehr den anderen zugewandt, weniger der Gefahr einer geistigen Verflachung und Verfettung ausgesetzt. Wer den Mut hat, seine Existenz mitten in aller Unsicherheit aufzubauen, wird sich besser in der Zeit zurecht finden, als wer versucht, seine Anker nach den Ufern vergangener Epochen auszuwerfen.

Alle diese Zeichen der Zeit - die ich fast wahllos aufgezählt habe, soweit sie mir bedeutsam und hoffnungsreich schienen - sind eng aufeinander bezogen und miteinander verbunden: doch scheint mir ,daß sie in einem besonders wichtigen, dem größten wohl, ihren Angelpunkt finden: wir stehen heute vor einer Neuentdeckung des Wertes des Menschen, seiner Person und seiner Würde. Wenn alle aufgeführten Ziechen Maßstäbe und Beziehungspunkte unserer Tage sein können, so ist der wichtigste und bedeutendste doch die neue Wertschätzung, die man der menschlichen Existenz heute zumißt. Unsere Werte sind in Krise und haben ihren Allgemeingehalt verloren: doch hat dieser Verlust zu einem neuen Schwerpunkt geführt, der fast allen Wertsystemen (ich möchte sagen Humanismen) unserer Zeit gemeinsam ist: der Mensch. An diesem Zeichen der Zeit vorüberzugehen und sekundäre Werte (z. B. Nation) an seine Stelle setzen zu wollen, wäre gänzlich unverzeihlich und äußerst schwerwiegend. Rückblickend schient mir nun, daß die aufgeführten Zeichen der Zeit recht gut ein eigenes - natürlich nur vorläufiges und bloß geschichtlich gültiges - Wertsystem bieten können: eine Art gemeinsamen Nenner für Menschen guten Willens, ob gläubig oder nicht (die Werte finden sich in Welt und Kirche), und ganz gleich welcher philosophischen oder ideologischen Anschauung. Ich glaube, wir brauche in einer Zeit des Pluralismus solche "gemeinsame Nenner", um einander zu finden und zu erkennen, auch über die Gemeinschaft der gleichgesinnten oder engen Verbundenen hinaus.

Es stimmt mich traurig, feststellen zu müssen, daß die meisten der oben genannten Zeichen der Zeit in Südtirol ignoriert (im besten Fall) oder gar mit Feindschaft oder Mißtrauen behandelt werden. Andere Werte, die vielleicht weniger dringlich sind und nicht immer geschichtlichem Empfinden entspringen und mir oft als Schein- oder Unwerte vorkommen, behaupten das Feld. Vielleicht wird es zu spät, wenn wir das Urteil späteren Geschichtsbüchern überlassen.
pro dialog