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Pluralismus und Einheit

1.4.1965, Aus: skolast Nr. 4-5
Zu den oft bemühten Aussprüchen und Gesamturteilen über unsere Zeit und ihre Erscheinungen gehört auch der über das "Massenzeitalter und seine Massenkultur, in der sich jede Individualität notwendig verlieren muß und niemand sich vor der Gleichschaltung rettet".

Viel daran mag nicht ohne Berechtigung sein, auf den ersten Blick vielleicht sogar überzeugend. Doch ist es vielleicht möglich, aus diesem düsteren Bild jene Züge hervorzuheben und zu retten, die Hervorhebung und Rettung zulassen. Die anderen - all jene Züge, die das Bild unserer Zeit notwendig ausmachen und charakterisieren, also wesentlich sind und insofern auch unabänderlich - wird Klage nicht bessern.

Wir merken vielleicht manchmal nicht, wie groß die Umwälzungen unseres Zeitalters sind und wie weittragend die Folgen, die vor allem technischer Fortschritt auch dem Weltbild des Denkers aufprägen muß. Mir schient, daß nie wie in unserer Zeit Philosophie und Ideologie von der äußeren, materiellen Weltlage abhing.

Zwei große Strömungen ergeben sich aus dieser Situation, die zueinander in scharfem Gegensatz stehen und vielleicht letztlich doch nicht unvereinbar sind: der Pluralismus der Ideen und Ideologien, die nebeneinander leben und Geltung beanspruchen (und teilweise auch durch politische oder geistige Macht Verwirklichung finden), auf der einen Seite; auf der anderen steht dem eine immer stärker werdende Tendenz zur Einheit entgegen, die aus unserem "Multiversum" doch ein Universum machen will.

"Pluralismus der Ideen": es ist nicht neu, daß diese erlaubte Mehrzahl nebeneinander vertretener Weltanschauungen und Gedankenströmungen die "modern" Zeit im Gegensatz zum einheitlichen Mittelalter kennzeichnet und zugleich eine der bedeutendsten - wenn nicht überhaupt die Höchste - Errungenschaft unserer auf Freiheit bedachten Welt darstellt. Frei sein, den eigenen Glauben, die eigene Weltanschauung, die eigene und je gemäße philosophische Richtung und politische Einstellung zu wählen, zu bekennen und zu verwirklichen trachten, ist heute vielleicht einer der wenigen Werte, die von fast allen Strömungen als solche anerkannt werden. Auch erwächst aus dieser Pluralität unleugbar fruchtbare Begegnung, Dialog, der sich zur Dialektik ausweitet und oft vom anfänglichen Gegensatz zu wertvoller Synthese führt.

Freilich darf dieser Ausblick auf die wohltätigen Folgen des ideologischen Pluralismus nicht verhehlen, daß auch nachteilige Auswirkungen nicht ausbleiben; ich glaube fast, daß unsere Zeit manchmal schwer an ihnen leidet. Es gibt da ein (allerdings schauerliches) Fremdwort, das vielleicht imstande ist, diese Krankheit zu nennen: Inkommunikabilität, also etwa die Unmöglichkeit der gegenseitigen Mitteilung und des gegenseitigen Verständnisses. Solche Unmöglichkeit findet sich auf politischem, wirtschaftlichem, weltanschaulichem, religiösem, philosophischem Gebiet; fast scheinen nur Wissenschaft und Technik dagegen immun. Inkommunikabilität aber nicht nur in den verwendeten Begriffen (Kategorien), in der Denkweise und Gedankenfolge, in der Auslegung gemeinsamer Grundlagen, sondern vor allem in einer grundlegenden und trennenden Verschiedenheit der Voraussetzungen, und zwar jener Voraussetzungen, die meist mit einem Glaubensakt angenommen oder abgelehnt werden müssen, die also Frucht nicht einer Erkenntnis, sondern eines Bekenntnisses sind. Unmöglichkeit, einander in den grundsätzlichen Entscheidungen zu begreifen: fast wird daraus menschliche Unmöglichkeit eine Weg miteinander zu gehen, der aber in unserer Welt nebeneinander nicht mehr gegangen werden kann.

Und doch fordert die Welt, in der wir beben, daß die Menschen miteinander, nicht bloß nebeneinander gehe, daß sie zusammen planen und aufbauen, was alle angeht und allen Leben auf dieser Erde sichert. Tendenz zur Einheit: Einheit, die vielleicht oft nicht im entferntesten geahnt oder erstrebt wird, die vielleicht mit Koexistenz oder Toleranz beginnt, die versucht, eine Widerstreit zu mildern (das Problem der "zwei Kulturen" und seine Überwindungsversuche legen Zeugnis ab), die aber unweigerlich in vielen Bereichen heraufzieht. Der Fortschritt und die Herrschaft der Technik und der Wissenschaft, die Ausweitung auf internationale und weltweite Dimensionen in der Politik, die Bevölkerungsexplosion auf unserer Erde, die klein gewordenen Entfernungen ,die gemeinsam durchgemachten Erfahrungen der Kriege und die Notwendigkeit, die Menschen als Massen in Betracht zu ziehen und vorzusehen, zielt zumindest auf Einheitlichkeit hin. "Standardisierung" ist nicht allein ein irreales Schreckgespenst. Standardisierung aber kann sich (und tut es!) auch auf die Kultur erstrecken, ja sogar auf die Ideen der Menschen. Auf der einen Seite nun sehen wir diese Tendenz zur Einheitlichkeit, auf der anderen erleben wir, daß gerade in unserer Zeit des weltweiten, einheitlichen Denkens auch die Ideen weltweite, einheitliche Geltung beanspruchen, daß eine Neigung zur Universalität und Totalität in den Weltanschauungen unserer Zeit liegen. Der Kommunismus etwa sieht ausdrücklich universale Gültigkeit seiner Schau der Dialektik in der Geschichte vor.

Für das Christentum ergeben sich aus dieser Perspektive völlig neue Aussichten, die erst zum Teil von der Christenheit selbst verarbeitet sind (gerade das Ökumenische Konzil stellt sich klar dieses Problem), während die materialistische Weltanschauung vielfach - wenn auch vielleicht unbewußt - davon ausgeht und der Liberalismus nicht damit fertig werden kann. Das Christentum nun müßte in dieser Richtung allen anderen Überzeugungen vorangehen: die Einheit ist wesensnotwendiges Zeichen (sacramentum) der Christenheit als des Mystischen Leibes Christi (vgl. bes. 17. Kap. des Johannes-Evangeliums: "Laß alle eins sein, damit die Welt glaube..."). Wurden Glaubenstrennungen in der Kirche manchmal als "anregende Konkurrenz" sogar als nutzbringend erachtet, so war das falsches Selbstverständnis. Hingegen ist dem Christentum die Einheit nicht nur als Wiedervereinigung getrennter Glaubensgemeinschaften brennendes Anliegen, sondern auch als lebende und wirkende Einheit aller Christen in dauernder und tätiger Liebe untereinander und als überzeugendes Zeichen allen anderen gegenüber primärer Auftrag Christi, der in vergangenen Zeiten manchmal übersehen wurde. Hierfür schafft die Tendenz zur Einheit, die von den Dingen der Welt gefordert wird, die ideale Voraussetzung, die erst noch richtig verarbeitet und bewältigt werden muß. Universalität ist her die richtig verstanden Katholizität.

Was aber bedrücken kann, ist die Frage nach der Persönlichkeit des Individuums. Muß sie aufgegeben werden, um dem "Standard" zu weichen (wie vielleicht der Idealismus fürchtete)?

Bestimmt, viele Phasen der Entwicklung, die wir untersuchten, sind für den Einzelnen unvermeidlich. Doch können wir für den Einzelmenschen vielleicht eine Rettung versuchen: das, was ihm die Umstände aufzuzwingen scheine, zu bewältigen und in freier Wahl - aus Liebe für den Christen -, anzunehmen; die "offene und geschlossene" Moral Bergsons stellt sich schon das Problem: in der "offenen Moral" ist die Zustimmung des Einzelnen nicht durch Zwang oder Nachahmung erreicht, sondern in persönlicher, freier Entscheidung anzuerkennen, d. h. gewisse Werte zu eigen zu machen.

Letztlich kommt es darauf hinaus, sich nicht durch die Umstände bedingen zu lassen, nicht von den Dingen bestimmt zu werden, sondern sich selbst die Bestimmung der Grundsätze vorzubehalten; eben jenes "Bekenntnis" selbst vorzunehmen, das nicht zur einfachen Erkenntnis durch Notwendigkeit vorgegebener Tatsachen werden darf.
pro dialog