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Der "Fall Isolotto"

1.1.1969, Aus: Die Brücke Nr. 15
Kirche der Armen noch am Rande - Wer will die Erneuerung der Kirche und wer verhindert Sie? - Kirchenrecht gegen Evangelium

In den letzten Wochen und Monaten hat sich vielleicht das wichtigste Ereignis der bisherigen italienischen Kirchengeschichte nach dem Konzil abgespielt: der "Fall Isolotto". Mehr als aus vielen Konzilsdekreten haben zahlreiche Christen und Nichtchristen daraus gelernt; da bei uns kaum oder nur sehr verzerrt darüber berichtet wurde, soll eine möglichst getreue Darstellung, mit einigen Ansätzen zur Deutung, allen jenen Material zur Reflexion und Diskussion liefern, die in irgendeiner Weise an der Erneuerung der Kirche interessiert sind. Absichtlich beschränke ich mich jedoch in erster Linie auf eine Erzählung der Tatsachen, damit der Bericht nicht zu lang wird und die möglichen Schlußfolgerungen in jeder Hinsicht (auch in Bezug auf mögliche konkrete Aktionen) nicht vorweggenommen werden.

Außergewöhnliche Pfarrgemeinde

Noch lange vor dem Konzil, schon 1954, entstand am damaligen Stadtrand von Florenz ein neues Wohnviertel, in dem sich vorwiegend Arbeiter niederließen. Bürgermeister La Pira hatte diesen Stadtteil "erfunden", es sollte daraus ein Beispiel für menschliches Zusammenleben und sozialpolitisches Engagement werden. Mehr, als man damals vielleicht annehmen konnte, ist diese Absicht Wahrheit geworden.

Die Bevölkerung des Viertels besteht zum Teil aus Menschen, die vom Land in die Stadt zogen, um dort Arbeit zu finden, und zum größeren Teil aus eingewanderten Familien aus den ärmsten Gegenden Italiens (vorwiegend Süditalien). Es gibt dort keine vornehmen Villen: die Bevölkerung gehört gleichmäßig den sogenannten "unteren" sozialen Schichten an. Aus diesem Umstand, aus der gemeinsamen Not der meisten Familien, aus der gemeinsamen Erfahrung der sozialen und oft auch ethnischen Diskriminierung (Einwanderer, besonders aus dem Süden, werden nirgends gerne gesehen), ergab sich schon von vornherein ein ganz beachtliches "Anfangskapital" an Mitmenschlichkeit und Solidarität zwischen allen.

In diesem Viertel wurde - neben anderen üblichen öffentlichen Einrichtungen - eine der zahlreichen neuen Vorstadtpfarreien errichtet, die sich oft durch ihre Spontaneität und Lebendigkeit von den traditionellen Routine-Pfarreien in Stadt und Land wesentlich unterscheiden. Dazu kam auch ein entsprechender Pfarrer, Don Enzo Mazzi und später seine beiden Mitarbeiter Don Gomiti und Don Caciolli. Der neue Pfarrer trug vom ersten Augenblick an wesentliche dazu bei, daß "seine" Pfarrei ein neues und dem eigentlichen Bild der christlichen Gemeinschaft mehr entsprechendes Gesicht zeigte. Vor allem erwies sich die Pfarrei von allem Anfang an als Gemeinschaft: ohne Unterschiede zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, "Praktizierenden" oder "Nichtpraktizierenden", stand der Pfarrer und die Einrichtungen der Pfarrgemeinde allen zur Verfügung. Was die Pfarrei an Gütern (Versammlungssaal, Unterkunftsräume, Geld, usw.) besaß, war stets allen zugänglich. Die Armen - und praktisch waren das ja fast alle Bewohner des "Isolotto"-Viertels - erfuhren sich als den eigentlichen Schwerpunkt der Gemeinde: die Verkündigung des Wortes ,die mitmenschlichen Hilfsdienste und das gesamte Leben der Pfarrei und ihrer Priester stellte sich durchaus auf sie ein. "Die Kirche" war für die Leute dieses Viertels nicht die anonyme, mit den Mächtigen dieser Welt verbündete Apparat, an den man sich wenden muß, wenn es die Konvention erfordert (Taufe, Hochzeit, Todesfälle, Erstkommunion, Firmung, Kinder- oder Jugenderziehung, usw.), sondern wurde als die Gemeinschaft aller in Brüderlichkeit und Einfachheit erlebt, in der jeder sich zuhause weiß und die das Schicksal aller mitlebte und mitgestaltete. Unter solchen Umständen konnte natürlich - zum Mißbehagen nur ganz weniger Gemeindeglieder - der traditionelle Pfarrapparat für den religiösen oder quasi-religiösen Konsum nie aufkommen: es bildeten sich keine oder nur ganz am Rande "katholische Vereine"; die Pfarrei besaß oder betrieb keine Kino-, Bar- oder sonstige Vergnügungsanlage, wie es sonst oft üblich ist; die "Dienstleistungen" der Pfarrei wurden selbstverständlich nie bezahlt (Meßstipendien, usw.), und die Fürsorge für die Bedürftigen in der Gemeinde mußte nicht an eine eigens dafür errichtete Institution (Vinzenzverein o.a.) delegiert werden, weil sich die gesamte Gemeinschaft verantwortlich fühlte. Auch das Verhältnis der Priester untereinander war nicht von der üblichen Autoritätsbeziehung Pfarrer - Kooperatoren oder von der sprichwörtlichen "invidia clericalis", dem gegenseitigen Konkurrenzeifer zwischen Amtsbrüder, gekennzeichnet, sondern von brüderlicher Zusammenarbeit und gemeinschaftlicher Verantwortung.

Konzil vorweggenommen

Überhaupt wurde in der Pfarrei des "Isolotto" vielfach die konziliäre Neubesinnung der Kirche sowohl praktisch als auch theologisch (aber unter Mitbeteiligung aller, nicht als abstrakte Ausarbeitung einiger Gelehrter) vorweggenommen. So wurde dort z. B. die Kirche durchaus als Gemeinschaft von Christen verstanden, in der einige - die Priester .- zwar einen irgendwie besonderen Dienstauftrag haben, der in mancher Beziehung gewöhnlich nur von ihnen ausgeübt wird, aber im übrigen genauso Mitglieder der Gemeinde sind, wie alle anderen. Deshalb teilten sie in allem das Leben und die Sorgen ihrer Mitchristen, was sie auf sozial-politischem Gebiet z. B. dazu führte, sich zu weigern, bischöfliche Verlautbarungen über die Stimmabgabe zugunsten der christlichdemokratischen Partei in ihrer Pfarrei zu verkünden. Im Gegenteil, sie nahmen, so gut sie es konnten (und wie es eigentlich die Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" in ihrer Einleitung von der gesamten Kirche aussagt), an den Nöten und sozialen Bestrebungen ihrer Gemeindemitglieder teil: so empfand man es als ganz natürlich, daß vor einigen Jahren anläßlich eines Streiks in den "Galileo"-Werken, wo viele Arbeiter aus dem "Isolotto" beschäftigt sind, eine Versammlung der Streikenden in der Kirche durchgeführt wurde, die wegen ihrer Ausmaße das einzige brauchbare Lokal war. Oder: da viele Menschen in diesem Viertel kaum eine volkschulmäßige Bildung besaßen, organisierte die Pfarrgemeinschaft einen Ersatzschuldienst am Abend, bei dem solchen Leuten Gelegenheit geboten wurde, einen kulturellen Rückstand zumindest teilweise aufzuholen. Es ist klar, daß solches Engagement mehr den Anliegen der Gemeinschaft entsprach als etwa die Veranstaltung von "christlichen Tanzfesten", Wohltätigkeitsglückstöpfen, Wallfahren usw.

Kathechismus, Liturgie, Verkündigung

Auch in der Liturgie bemühte sich die Pfarrgemeinschaft, möglichst die eingefleischte Entfremdung zwischen einer passiv anwesenden Masse und einem fernen und unverständlich agierenden Zelebranten zu brechen und durch Gemeinschaftlichkeit und Spontaneität zu beleben, was allerdings häufig durch kirchenrechtliche Vorschriften und entsprechende kirchenbehördliche Hinweise vereitelt wurde. Aber trotz mancher Unterdrückungsversuche konnte die charakteristische Note der Seelsorge im "Isolotto"-Viertel nicht getilgt werden: die Verkündigung der Heilsbotschaft und das Leben der Gemeinde war stark geschichtsbezogen und gemeinschaftlich ausgerichtet. So war es ganz natürlich, daß die verschiedenen Ereignisse, die jeweils die Menschen dieser Gemeinschaft bewegten, auch in der Verkündigung und in der Praxis der Gemeinde (Predigt, Liturgie, Gebet, Diskussion, konkrete Aktionen) zum Ausdruck kamen (z. B. Vietnam, Tschechoslowakei, Streik, Arbeitslosigkeit, Gesellschaftskritik, Rassenproblem, Klassenstruktur der Gesellschaft, usw.) und die ganze Gemeinschaft ein starkes Engagement zeigte und lebte. Und nicht nur innerhalb der Pfarrei wurde die Solidarität mit allen Unterdrückten und Armen konkret gelebt: auch wurden z. B. Waisenkinder aus Instituten geholt und in der Gemeinschaft aufgezogen, Arbeitslose und Strafentlassene in die Gemeinschaft eingegliedert, usw., und zwar nicht nach dem Prinzip der Abwälzung auf Institutionen, wodurch zwar das Gewissen irgendwie beruhigt ist, die Notlage aber anonym abgeschoben und ignoriert wird, sondern durch tatsächliche Teilnahme und Miterleben. Und so wie die Gemeinde in den Tagen der Überschwemmung von 1966 die Hilfe anderer erfahren hatte, so setzte sie sich ihrerseits immer wieder für andere ein (zuletzt besonders intensiv für die Erdbebengeschädigten in Sizilien, durch ständige Mitarbeit bei Reorganisation und Aufbau). Diese Solidarität aber blieb nicht auf Einzelfälle beschränkt, sondern nahm durchwegs bei fast allen Pfarrmitgliedern auch politische Form an und versuchte damit, die verschiedenen und oft weltweiten Probleme (z. B. Dritte Welt, Lateinamerika, Rassendiskriminierung, usw.) mitzuleben und durch aktive Teilnahme am Kampf von Gewerkschaften, Arbeiterparteien, usw. mitzulösen. (Es mag vielleicht interessant sein, daß sich die Gemeinschaft im Rahmen ihrer Informationsarbeit zur politischen Bewußtseinsbildung mehrfach auch mit Südtirol befaßte.)

Konflikte mit den "Gesetzeslehrern und Pharisäern"

Es ist wohl kein Wunder, daß eine derart engagierte Gemeinschaft immer wieder - und oft aus ziemlich fadenscheinigen Gründen - den Trägern der bestehenden Macht ein Dorn im Auge werden mußte, und daß sie von seiten der kirchlichen (Kurie, usw.) und weltlichen (Polizei, DC) Behörden und Machtträgern ungern gesehen und mit Argwohn betrachtet wurde. Mehrfach hatte es schon Ansäte zu offenen Konflikten gegeben, die dann aber meist durch Totschweigen aus der Welt geschafft wurden, weil man sich doch nicht gerne an eine so lebendige und kompakte Gemeinschaft heranwagte.

Im September 1968 aber brach ein offener Gegensatz endlich aus. Die Pfarrgemeinde hatte nämlich zu Ende des Monats an einem Sonntag - und wie üblich in der Kirche - eine Resolution gefaßt, in der sie sich mit jenen Christen solidarisch erklärte, die am 14. und 15. September die Kathedrale von Parma symbolisch "besetzt" hatten, um drin zu diskutieren und gegen einige besonders evidente Aspekte kirchlicher Untreue gegenüber dem Evangelium zu demonstrieren (Versetzung eines Pfarrers, Diözesanzeitung, Bindung der Kirche an die Reichen und Mächtigen, usw.). Diese Aktion, die von der Polizei - welche der Bischof gerufen hatte - gewaltsam beendet wurde, war auch vom Papst in einer Ansprache verurteilt worden (der jedenfalls kaum oder nur sehr oberflächlich über den wirklichen Vorgang der Dinge und die wahren Motive informiert war): der offene Brief der Pfarrgemeinschaft (den übrigens auch andere Pfarrer und Gemeinden später mitunterschrieben haben) drückte ihre Solidarität mit den "protestierenden Christen" und deren theologischer Grundhaltung für eine arme Kirche aus und stellte somit ihren diesbezüglichen Gegensatz zur Äußerung des Papstes fest.

Dieser Brief war endlich für den Kardinal Florit von Florenz der Anlaß, ein Ultimatum zu erlassen: er forderte den Pfarrer (!) auf, "seinen" Brief zu widerrufen oder als Pfarrer dieser Gemeinde abzutreten.

Die Reaktion des Kardinals war bezeichnend für das kuriale Denken: eine andere Beziehung als die individuell-juristische zwischen dem Priester und seinem "vorgesetzten" Bischof schien unfaßbar, so wollte man also auf diesem Wege die hierarchische Ordnung und die kirchliche "Geschlossenheit" wieder herstellen. Zur Untermauerung wurde zwar sorgfältig ausgewählte Konzilszitate aus dem Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe gebracht, aber das konnte nicht darüber hinwegtäusche, daß die Kirche nach alter Manier als Sache der Priester und Bischöfe mit dem Volk als Hintergrund zu einer autoritär verstandenen kirchenrechtlichen Beziehung gesehen wurde. Daß es darüberhinaus wohl um einen Schlag gegen die ganze Seelsorge-Art des "Isolotto" ging, ist wohl mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen.

Die Repression

Don Mazzi reagierte, indem er den Brief des Kardinals vervielfältigen und der Gemeinde zu Überlegung und Entscheidung vorlegte: auf einer Versammlung (nach einer beachtlichen Mobilisierung gemeinschaftlicher Solidarität in- und außerhalb der Pfarrgemeinschaft) beschloß die Gemeinde, den Rücktritt des Pfarrers abzulehnen und lud dafür den Bischof ein, sich durch einen Besuch und eine Aussprache ein besseres Bild von der wirklichen Lage zu machen und dann mit der Gemeinde zu beraten, was zu tun sei, bevor er eine Entscheidung treffe.

Wenige Tage nachher erschien im Druck ein Leitfaden für den "Katechismus", d. h. für die erste Glaubenseinführung für Kinder. Dieser "Katechismus" spiegelt ganz die pastorale Erfahrung dieser Gemeinschaft wider und ist bestimmt auf seine Weise "einseitig" (sicher nicht einseitiger als jener Pius' X., bemerkte dazu ein Priester): weil er den "übernatürlichen Aspekten" des Christentums zu wenig Aufmerksamkeit widme, wichtige Glaubenswahrheiten nicht erwähne und Christus zu sehr als Sozialrevolutionär darstelle, wurde er sofort vom Kardinal für den Glaubensunterricht verboten.

Wenige Tage nachher, nach einer kurzen Aussprache mit Don Mazzi und einigen seiner Pfarrmitglieder, erließ der Kardinal ein Dekret, das den Pfarrer seines Amtes enthob (ihn aber nicht in den Laienstand versetzte oder suspendierte).

Die nachfolgenden Ereignisse (Protestzug der Gemeindemitglieder vor die Kurie, Forderung nach Rücktritt des Kardinals, Polizeibespitzelung in der Pfarrei, Prostestdemonstrationen am Petersplatz in Rom, Verbleiben des abgesetzten Pfarrers - nunmehr als Elektriker tätig - und seiner Mitarbeiter im "Isolotto"-Viertel bei ihren Leuten, usw.) sind vielleicht wegen ihrer größeren Sensationswirkung und dementsprechenden publizistischen Auswirkung eher bekannt. Bemerkenswert ist dabei die Haltung des "Osservatore Romano", der vor allem die schädliche Öffentlichkeit des ganzen "Falles" bedauert (die übrigens nicht von der Pfarrei gewollt war, sondern von einem rechtsliberalen - Don Mazzi feindlich gesinnten - Florentiner Blatt hervorgerufen wurde): solche Dinge würden besser unter den "Zuständigen" allein ausgehandelt...

Aber gerade das ist ja vielleicht die wichtigste Lehre aus dem ganzen Vorfall: daß alle Christen (und nicht nur sie) für die Kirche und die Verkündigung der Heilsbotschaft "zuständig" sind, und daß die Botschaft glaubwürdig und für jene gelebt und gelehrt werden muß, an die sie gerichtet ist ("... das Evangelium den Armen zu künden", heißt es in der Bibel); und daß die Botschaft einer Gemeinschaft aufgegeben und anvertraut ist, nicht einem Behördenapparat.

Der holländische Dominikaner, P. Schoonenberg (einer der Hauptverfasser des "holländischen Katechismus"), meinte, die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft hänge mehr von der Orthopraxis (richtiges Handeln) als von der Orthodoxie (richtiges Glauben) ab, und für die Glaubwürdigkeit christlicher Hirtenverantwortung in Italien sei es heute wichtiger, den "Fall Isolotto" zu lösen, als die eventuellen Irrlehren aus dem Katechismus dieser Pfarrei herauszupicken...

Ob solche Ereignisse nicht doch mehr beachtet, und Konsequenzen daraus gezogen werden sollten?
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