Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Religion

Biographie Schriften - Alexander Langer
Albanien Europa Ex-Jugoslawien Friedenspolitik Grüne Kultur Israel/Palestina Lebensstile Nord/Sud Ost/West Politik Religion
Südtirol - Alto Adige Umweltpolitik Zusammenleben
Bibliographie Erinnerungen Nachlass
(22) Cassar-Simma: Trag Sorge - Abbi Cura - Take Care (11)

Los vom Glashaus, Christentum/Erziehung

1.4.1968, Aus: die brücke Nr. 4
In diesem Beitrag soll ein Problem zur Diskussion gestellt werden, das sich aus der Erneuerung des christlichen Bewußtseins durch das Konzil und den vielen daraus bestimmten kritischen Überlegungen ergibt: es geht um die Frage der "christlichen Erziehung". Eine jahrhundertelange Tradition hat bis auf unsere Tage einen mehr oder weniger festgelegten Typus "christlicher" Erziehung geprägt, der aber heute durch die veränderten Zeitumstände fragwürdig geworden ist, noch bevor das christlich-katholische Durchschnittsbewußtsein darauf überhaupt reagieren konnte.

Man kann sich wundern, warum die Krise erst jetzt in ihrer Schwere zum Ausbruch kommt, aber vielleicht würde man dadruch dem eigentliche Problem nicht gerecht: ich bin überzeugt, dass die Unzulänglichkeit nicht erst heute aufgetaucht ist, nur kommt sie in unserer Zeit besser zum Ausdruck, da ein Klima größerer Freiheit und Unvoreingenommenheit auch innerhalb der Kirche manchen bisher verschwiegenen oder ignorierten Aspekt aufgreifen läßt.

Es ist klar, dass die nun folgenden Zeilen die Frage nicht lösen können oder wollen; doch soll damit ein Beitrag zur Kritik und zur Auseinandersetzung geboten werden.

Erziehung zur Flucht?

Dem neuen Bild des Glaubens und der Kirche entsprechend, wird vielleicht vor allem das Gefühl unbedingter Sicherheit und Geborgenheit einem neuen Empfinden Platz machen müssen: die Kirche (somit auch die erzieherische Vorbereitung auf kirchliches Leben) darf sich nicht mehr als ummauerte Stadt oder Festung sehen, die Schutz gegen den Feind und Nestwärme für die eigenen Glieder bietet. Die Konsequenzen daraus müssen erst langsam gezogen werden: jedenfalls glaube ich, dass es mit einer vorwiegend defensiv ausgerichteten Haltung der christlichen Erziehung vorbei sein müßte. In der Praxis kann das zahlreiche Folgen haben: die traditionelle Auffassung von Erziehung als Bewahrung vor etwas muß einem anderen Konzept Platz machen. Werden z. B. die katholischen Schulen, eine bestimmte Art katholischer Vereine, bestimmte "katholische" Veranstaltungen und dgl. die Neubesinnung heil überleben oder radikale Veränderungen in Kauf nehmen müssen (im Grenzfall auch verschwinden)?

Überhaupt hat eine "Erziehung zur Flucht" vielfach zahlreiche katholische (oder wohl überhaupt christliche) Generationen geprägt. Das Losungswort schien vor allem auf Vermeidung jeder Ansteckungsgefahr von seiten der "Welt" hinzuzielen: christliche Jugendliche wurden angehalten, dies und jenes zu meiden oder zumindest mit äußerster Vorsicht all dem zu begegnen, was sich "draußen im Leben" tat. Nicht zufällig wurden wohl auch entsprechende Vorbilder (etwa S. Aloisius) - solcher Mentalität zweckmäßig angepaßt - als nachahmenswert hingestellt.

Die Folgen der Defensivhaltung zeigen und zeigten sich auf vielen Gebieten, von denen die oft bemühte Sexualmoral vielleicht nicht einmal das erste ist: Tatsache scheint es mir jedenfalls zu sein, dass sich nur aus solcher "Erziehung" das vorsichtige und ängstliche Denken vieler Katholiken der "Welt" gegenüber erklären läßt. Denn das althergebrachte Gehorsamdenken lieferte ja ausgezeichneten Schutz und sicherte die so formierte "civitas Dei" gegen Gefahren und Zweifel ab: die eigene Verantwortung wird allerdings in einem solchen System kaum je erlebt, da es nicht gelingt, bis zu ihr vorzudringen; zu viele andere Instanzen nehmen sie dem Gewissen ab, sodaß man sich nicht wundern darf, wenn dasselbe Gewissen im Falle plötzlichen Mangels an Direktiven nicht mehr aus und ein weiß und somit ganz bedeutende Fehlentscheidungen treffen kann.

Darum scheint mir eine mutige Erziehung im Geist der Kirche als "Gemeinschaft unterwegs", als Volk Gottes notwendig, in welcher Freiheit und Verantwortung schon frühzeitig erlebt und gemeistert werden. Wo anders denn als in einer auf Leibe und Freiheit gegründeten Gemeinschaft soll sich Verantwortung besser lernen lassen? Natürlich braucht es dazu Mut und viel Vertrauen, doch sind diese beiden Eigenschaften im Reich Gottes ja zuhause.

Keine katholische "Neben"- oder "Konkurrenzwelt"!

Wenn also christliche Erziehung ihre Defensivhaltung aufgibt und den Mut hat, Verantwortung zu übertragen, ohne sie der Einzelpersönlichkeit durch Kontrollmechanismen abzunehmen, dürften sich auch so manche Folgeerscheinungen der Fluchtmentalität von selbst erledigen. Ich denke hier vor allem an die spezifisch katholische Tendenz, besonders während der Zeit der Erziehung (aber auch sonst oft) den Christen von der Welt abzusondern und möglichst aseptisch in irgendein katholisches Glashaus zu verpflanzen.

Konkret kommt das z. B. in all den Bestrebungen zum Ausdruck, die den bestehenden Strukturen der "Welt" ebensolche kirchliche entgegensetzen wollen, sodaß der Christ sich häufig in eine unwirkliche "Nebenwelt" versetzt sieht, wo er Mensch und Welt spielt. Katholische Gewerkschaften, Sportvereine, Freizeitgestaltung, Kulturvereine, und dgl. vermitteln die Illusion, einerseits wirklich ganz "in der Welt" zu stehen, andererseits aber eben doch nicht "von der Welt" zu sein und ihr wirksame Konkurrenzstrukturen des Gottesreiches entgegenzustellen, wo sie eigentlich gar keine Existenzberechtigung oder zumindest geschichtlich keine reale Aufgabe haben. So spielen wiederum viele Christen "Engagement", versäumen aber häufig, in jenen Strukturen wirklich und vorbehaltlos gegenwärtig zu sein, wo es sich darum handelt, eine Welt für alle - nicht nur für Christen - zu bauen und zu verbessern.

Dieses Fernstehen von den nicht eigens als christlich gekennzeichneten Strukturen ist für den überholten, integralistischen Katholizismus charakteristisch, und dürfte darum heute nicht mehr gepflegt werden. Das setzt aber voraus, dass auch christliche Erziehung auf echtes, brüderliches Mittun in der Welt auf partnerschaftlicher Basis hinzielten muß, wenn nicht schon der junge Mensch auf eine dem Gleichgesinnten reservierte Scheinwelt vorbereitet werden soll. Ein Verzicht auf all jene Strukturen, die nicht eigentlich kirchlichen Zwecken dienen und trotzdem die katholische Etikette beanspruchen, würde nicht nur die Kirche wahrhaftiger und ärmer machen (indem sie sich von weltlicher Macht auch hier befreite), sondern auch ein viel wahreres Kirchen- und Gotteserlebnis ermöglichen, das seine Sicherheit nur mehr in Gott fände und die Pseudo-Geborgenheit der Struktur überwunden hätte.

Auch die Brüderlichkeit unter allen Menschen, die in einer pluralistischen Welt mehr denn je geboten ist, könnte erst durch Verzicht auf unnötige, trennende Scheingefüge richtig erlebt werden um den vielzitierten Nächsten (auch wenn es sich um einen andersgläubigen Samariter handeln sollte ...) tatsächlich von der Nähe kennenzulernen und mit ihm zu arbeiten.

Das bedeutet natürlich nicht, dass jede kirchliche Struktur oder Gemeinschaft unnütz ist: nur wirkt sie in dem Maß glaubhafter, als sie sich nicht parallel neben gleichgeartete weltliche Einrichtungen (z. B. Industriellenverband - christliche Unternehmer) stellt, sondern wirklich ihre ureigenen Anliegen wahrnimmt.

Es wird vielleicht nicht leicht sein, die "christliche Erziehungsarbeit" zum Verzicht auf so viele Funktionen zu veranlassen, die sie in Nebenregie mitführt, ohne eigentlich dazu berufen zu sein (z. B. Tanzunterhaltungen, Sport, Bergsteigen, Spiele usw. - viele Pfarrheime könnten Beispiele liefern); und vielleicht müßte eine eingehendere Diskussion überhaupt erst feststellen, was alles für christliche Erziehungsarbeit wirklich notwendig ist. Unbestreitbar aber scheint mir, dass die Reinheit und die wesentlichen Aufgaben christlicher Erziehung durch derartige stellvertretende Betätigung stark in Frage gestellt sind.

Ohne Vergewaltigung des Menschen

Ein weiterer Punkt, den sich nachkonziliäre Besinnung zur Überlegung vornehmen müßte, scheint mir das Problem der echten Menschlichkeit. Es handelt sich da nicht nur um Erziehung (obwohl dort vielfach die Weichen entscheidend gestellt werden), sondern um eine ganz grundlegende Frage, die unmöglich mit diesen Zeilen erschöpft werden kann.

Es lastet diesbezüglich Jahrhunderte unchristlicher (aber von Christen gepredigter) Trennung zwischen Seele und Leib, zwischen Materie und Geist auf uns, wobei natürlich der Seele und dem Geist der Vorzug gebührte, während die Leiblichkeit und die Materie notfalls auch unterdrückt werden durften... Eine derartige "spiritualistische" Einstellung führte zu eine Erziehung, die im Christen vor allem Liebe zu Gott hervorrufen wollte, in Wirklichkeit aber oft am Weg zur "Übernatur" (als ob man die einfach von der "Natur" trennen könnte...) die "Natur" vergewaltigte, außer acht ließ oder bestenfalls als bequemes Sprungbrett zu Gott betrachtet, ohne sich bewußt zu werden, dass Gott den Menschen als Ganzes geschaffen hat. Vielleicht liegt es daran, dass christliche Liebe so oft den Nächsten nur als Mittel betrachtete, in dem wir Christus begegnen, ohne uns aber mit ihm näher auseinanderzusetzen, ohne ihn wirklich zu lieben und ohne ihm gegenüber unser Menschsein wirklich aufs Spiel zu setzen. Eine gewisse Ersatzmenschlichkeit, die man uns Christen oft vorwirft, bemühte sich dann womöglich, auf "übernatürlichem" Gebiet zu retten, was von Mensch zu Mensch versäumt wurde (und war als solche bestimmt subjektiv ehrlich).

Darum scheint es mir ungemein wichtig, dass christliche Erziehung von heute das ernst nimmt, was theoretisch seit 2000 Jahren feststeht: dass man Mensch sein muß, um Christ zu sein. Wieviel Umdenken und Neuerfahrung es da in Erziehern und Erzogenen braucht, läßt sich wohl kaum abschätzen. Nur richtige Menschen können jene Inkarnation vollziehen, die in Christus und in der Kirche die Heilsgeschichte wirksam und glaubwürdig macht.

Nicht im luftleeren Raum

Mensch aber kann nur sein, wer Mensch in seiner Zeit ist. Und auch diesbezüglich fürchte ich, dass die gängige "christliche" Erziehung viel versäumt ha. Denn vielfach zeichnen sich Christen auch heute noch durch akuten Mangel an Geschichtsbewußtsein aus: sie mißverstehen oft Zeichen der Zeit, weil die Erziehung nicht darauf hinarbeitet, sie zu sehen und zu deuten. So kommt es z. B., dass zahlreiche Christen vielleicht individuell oder in Vinzenzvereinen Charitas üben, aber keinerlei politisches Verständnis besitzen, das es ihnen ermöglichte, wirksamere Hilfe und für alle zu betreiben. Überhaupt ist das Mißtrauen der Politik gegenüber m. E. ein schlimmes, aber deutliches Symptom dafür, wie sehr der Christ oft an den Erfordernissen seiner Zeit vorbeilebt. Das ist wohl auch kaum zu verwundern, wenn man bedenkt, wie lange (oft auch heute noch) die christliche Erziehung einzig auf absolute Wahrheiten hinauslief, ohne jeden Bezug zum "hier und heute". So lernten es viele Christen zwar, den historischen Christus zu kennen, ihn aber in den unterdrückten Völkern der Dritten Welt z. B. nicht wiederzuerkennen; sie lernten, dass Freiheit und Gerechtigkeit hohe Güter sind, bringen es aber nicht fertig, sich heute für konkrete und geschichtliche Erscheinungsformen dieser Güter zu entscheiden; sie lernten "in abstracto" das Gebot der Liebe und Brüderlichkeit, wußten aber dann nicht, wie es fallweise anzuwenden sei.

Eine auf Metaphysik (Ding an sich, Wahrheit an sich) ausgerichtete oder im besten Fall auf individuelle Moral vorbereitete Erziehung muß aber heute notwendig ungeschichtlich wirken. Das zeigt sich auch schon in der allgemein angewandten Methode, die ausgesprochen auf Deduktion aus ist: man lernt das Prinzip fürs Leben und mag dann sehen, ob man auch konkrete Fälle für seine Anwendung findet.

Einladung zur Diskussion

Neben diesen Bemerkungen würden sich noch manche andere ergeben, doch kann es vielleicht so genügen, um eine fruchtbare Auseinandersetzung in gang zu bringen. Kritik an der Kirche in ihren zeitlichen Erscheinungsformen ist letztlich von der Liebe zu ihr getragen und findet in ihr den eigentlichen "Ort" der Entfaltung: wo denn, wenn nicht in der Freiheit der Kinder Gottes, soll sich eine wirklich offene und vorbehaltlose Diskussion bewähren?
pro dialog