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Deutsch, Italienisch, Nördlich, Südlich: Zwei Welten, die in Südtirol durcheinanderkommen...

1.9.1990, Frieden schließen
Deutsche und italienische Menschen hatten und haben es nicht immer leicht miteinander. Die zwei großen und traditionell benachbarten europäischen Kulturvölker, die die Mitte unseres alten Erdteils vom Norden bis zum Süden bewohnen, konnten immer wieder Anlässe zur gegenseitigen Reibung wie auch zur gegenseitigen Bewunderung finden. Und die Einzelmenschen auch - ob sie nun als Soldaten oder Touristen, Gastarbeiter oder Handelsreisende miteinander zu tun hatten und haben.


Bald fürchteten oder verachteten die einen die anderen als Barbaren, Invasoren oder dekadente Verschleuderer eines großen Erbes, bald machte man sich den Mittelpunkt des (d.h. Europas) streitig, bald sah man in den anderen die eigenen Träume und Sehnsüchte und alles, was einem selbst fehlte verwirklicht, bald empfand man die je anderen als ausgesprochen unsympathisch, wenn nicht gar unausstehlich.

Dabei gibt es ungeahnt viele Parallelen zwischen italienischen und deutschen Menschen und Völkern - unter anderem auch die, daß beide erst spät und irgendwie unbefriedigend vom nationalen Einigungsprozeß und dem dazugehörigen Staat heimgesucht wurden. So unbefriedigend war dieser Nationalstaat, daß er - der eine wie der andere - viele Widerstände hervorrief, und sowieso nicht imstande war, alle Deutschen oder alle Italiener einzugemeinden. Was er aber immerhin, im Norden wie im Süden, vermochte und leider bis zum heutigen Tag bleibend angerichtet hat, war die Degradierung zweier Kulturnationen zu Staatsnationen. Der Weg zum Pangermanismus, zum Wunsch nach einem Staat für alle Deutschen, war damit gleichermaßen geebnet wie zum Panitalianismus, dem Bestreben nach Vereinigung aller Italiener unter einer Nationalflagge. Nur konnte dieser zweite Wunsch - sozusagen - weniger blühen und gedeihen als der erste und richtete somit auch weniger Schäden an. Aber der Expansionsdrang in die Kolonien, zur Eroberung italienischer Gebiete bzw. Heimführung deutscher Völkerschaften und schließlich die imperialen Großmachtallüren und die dazugehörigen Kriege waren beiderseits katastrophal und folgenschwer. Und sogar in der tragischen Entwicklung zum Faschismus bzw. Nationalsozialismus gibt's eine enge Verwandtschaft zwischen Deutschen und Italienern.

Die beiden Kulturnationen, die vielleicht besser nie zu Staatsnationen geworden wären, haben die historisch gemeinsame Aufgabe, die - nicht nur geographische - Mitte Europas und das Erbe des abendländischen Reiches zu bewahren, zu verwalten und für alle Europäer fruchtbar zu machen. Keine Kleinigkeit.

Die deutschen und italienischen Menschen, die ja ihren Alltag und ihre gegenseitigen Beziehungen, so es welche gibt, meistens viel unbelasteter und ohne sonderliche geschichtsträchtige Rückbesinnung erleben, haben natürlich im gegenseitigen Umgang nicht immer weiß Gott welchen Hintergrund bewußt im Nacken. Da dominiert eher die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit mit ihren manchmal recht starken und einschneidenden Erfahrungen: die Erinnerung an die Nazi-Zeit und den Weltkrieg, an die ersten Einwanderungswellen von Gastarbeitern, und der immer massenhaftere Kontakt durch Urlaub und Reisen, Literatur und Film, Gastronomie und Mode, Technologie und Studium. Daß dabei oft stereotype (wenn auch nicht bloß negative) Vor-Urteile vorherrschen, darf nicht verwundern. (Vielleicht hätten die deutschen Reiseführer der Fünfziger und Sechziger Jahre dies den damaligen deutschen Touristen besser erklären sollen: manche gegenseitige und auch schmerzliche Reibung wäre dadurch vielleicht gemildert oder zumindest erklärt worden.)

Heute sind die Gelegenheiten zum gegenseitigen Kennenlernen zwischen deutschen und italienischen Menschen durch die so ganz erleichterten Reisemöglichkeiten und breit gestreute Bildungsvoraussetzungen sehr viel zahlreicher und vielfältiger geworden als früher. Auf beiden Seiten gibt's auch etliche Landsleute, die als Dauergäste der anderen Kulturnation eine besonders interessante und wichtige Aufgabe wahrnehmen. Sie betrachten Italien (bzw. deutsche Länder) von innen und mit deutschen (bzw. italienischen) Augen, die aber auch an der Wirklichkeit des Gastlandes geschult und geschärft sind. Und was sie -diese Korrespondenten, Reisenden, Schriftsteller, Auswanderer, Gastprofessoren und dergleichen mehr - im Gastland zu erkennen und zu begreifen vermögen, geben sie weiter und eröffnen dadurch ihren heimatlichen Mitbürgern einen mitfühlenden und gewitzten Blick auf das Land und seine Menschen.

Das gegenseitige Kennenlernen findet natürlich nicht in erster Linie durch Reiseführer oder Länderbeschreibungen statt - da mögen Romane oder Musik, Familienerzählungen oder jugendliche Phantasien viel nachhaltiger die Erwartungen und Vorstellungen prägen. Und was heute Deutsche über Italiener (und umgekehrt) wissen oder zu wissen glauben, hat vielleicht überhaupt mehr mit VW und FIAT, Gianna Nannini und Beckenbauer, Rimini und Bildzeitung zu tun als mit Goethes Reise nach Italien oder den Landsererinnerungen aus dem 2.Weltkrieg.

Die Gemeinsamkeiten, die heutzutage zwischen deutschen und italienischen Menschen zu spüren sind, kommen überhaupt eher durch Gleichschaltung über Modernisierung als aus gemeinsamem Erbe aus der Vergangenheit. Die Autobahnraststätten, der Euroscheck-Service und halbwegs funktionierende Telefone und Hotels oder Reisebüros vereinheitlichen immer mehr die äußeren Umstände, unter denen man Land und Leute anderswo bereisen und besuchen kann. Umso kostbarer wird die Auskunft über all das, was man an besonderem sehen und erleben, erfahren und mitbekommen kann. Dabei läuft man allerdings auch Gefahr, Intimitäten auszuplaudern, die einem aufgrund intensiver und gelebter Beziehungen zu Italien und den Italienern mit Fug und Recht zugänglich wurden, die man aber nicht einfach jedem beliebigen Käufer und Leser eines Buches oder einer Zeitschrift preisgeben kann - und nicht etwa nur deshalb, weil der dann ja gar keiner mehr ist, sondern auch, weil keinerlei Gewähr besteht, daß alle Empäfnger solcher Hinweise mit Land und Leuten so respektvoll und einfühlsam umgehen wie man es eigentlich sollte.

Dabei könnte man vielleicht etwas von dem entdecken, was mir nach langem Nachdenken als die Quintessenz des Italien-Erlebnisses für deutsche Menschen heute zu sein scheint.

Denn was man letztlich in Italien sucht - und immer noch findet - ist die Begegnung mit dem Süden. Und so viele Parallelen und Ähnlichkeiten es zwischen deutscher und italienischer Welt geben und so gleichgeschaltet vieles aussehen mag, es wird sich kaum leugnen lassen, daß in der deutsch-italienischen Begegnung immer auch irgendwie eine Begegnung zwischen Norden und Süden stattfindet - mit ihrer Faszination und ihrer Irritation.

Auf den ersten Blick kann das nach Gemeinplatz schmecken. Den Norden stellt man sich natürlich geordnet, effizient, maßvoll, pünktlich, leistungsbewußt, unbestechlich, vernunftbetont, wohlorganisiert, sauber, übersichtlich vor - aber auch wenig kommunikativ, berechnend, verschlossen, zurückhaltend, förmlich, gefühlsarm, kurzum: ein wenig grau und kühl oder gar kalt. Der Süden hingegen wird gemeinhin als die entgegengesetzte Polarität beschrieben: spontan, herzlich, ungeordnet bis chaotisch, laut, überschwenglich, gesellig, ungezwungen, offen, gefühlsbetont, also warm - allerdings auch schmutzig, korrupt, unordentlich, unzuverlässig, doppelzüngig und ineffizient.

In meiner Heimat Südtirol, wo diese beiden Welten unmittelbar aufeinandertreffen und wohl oder übel miteinander auskommen und zusammenleben müssen, erzählt man sich die Geschichte von einem sehr deutsch-bewußten Menschen, der von Geburt an sich immer für die deutsche Seite entscheidet: deutsche Eltern, deutsche Taufe, deutscher Kindergarten, deutsche Schule, deutsche Freunde, Begeisterung für deutschen Sport, deutsche Vereine, deutsche Ehe... bis er dann nach seinem Tod in die Hölle kommt, und dort pflichtgemäß gefragt wird, ob er in die deutsche oder italienische Abteilung kommen wolle. , antwortet er zur Überraschung der versammelten Teufel,

Mit dem Unterschied zwischen Süd und Nord mag es ähnlich zugehen wie mit jenem zwischen weiblich und männlich: bei aller Gleichmacherei durch Fortschritt und Technik und bei aller Gleichstellung durch Gesetze und Verträge ist er doch nicht ganz wegzuleugnen und auch nicht wegzukriegen. Aber auch nicht so klar festzuschreiben, daß man eine eindeutige Grenze ziehen könnte und das eine oder das andere völlig aussperren könnte.

Wenn man der Natur dieses Unterschiedes jenseits der gemeinen Erfahrung und der Schablonen näher auf den Grund gehen möchte, könnte man ihn vielleicht so definieren: das, was hier als skizziert wird, hat mit Methode und System zu tun. Im so verstandenen Norden kann sich ein durchsetzen, eine , die so stark ist, daß sie die Wirklichkeit einzufangen und zu unterwerfen vermag. Im Süden hingegen trägt das Leben den Sieg über das System davon: die Erfahrungswirklichkeit ist stärker als jene des Systems und setzt letztlich der Durchsetzbarkeit jedes Systems eine Grenze, bzw. unterläuft jedes System. (Man möge sich noch einmal an die Hölle aus dem Südtiroler Witz erinnern: vielleicht könnte man darin eine kurzgefaßte Beschreibung des Unterschieds zwischen Faschismus und Nationalsozialismus sehen.)

In einer Welt, die durch den Vormarsch der Systeme und ihrer eisernen ordnenden und gleichschaltenden Hand bedroht ist und täglich an Vielfalt und Reichhaltigkeit verliert, braucht es offensichtlich . So fremd und andersartig das Südliche für viele nördliche Menschen wirken mag, so wenig läßt sich leugnen, daß die Sehnsucht danach irgendwo tief verwurzelt ist. Und vielleicht auch umgekehrt, da sich die Gegensätze bekanntlich ergänzen.

Nun kann man nicht einfach den Süden italienisch und den Norden deutsch ausmalen - es handelt sich dabei um eine weltweite Erscheinung, zu deren Herausbildung und näherer Ausgestaltung eine Unzahl historischer und natürlicher Faktoren beigetragen haben. Und der Nord/Süd-Unterschied ist natürlich auch ein inner-italienisches (und sicher auch ein inner-deutsches) Problem. Gerade die Entwicklung Italiens nach dem zweiten Weltkrieg kann auch als unerbittlicher Vormarsch des Nordens und schrittweise Verdrängung des Südens in die Defensive gelesen werden - wie überall in der Welt der vom Wirtschaftswachstum gekennzeichnete Fortschritt ja geradezu wesensmäßig mit dem Süden aufräumen muß, wenn er seinen Siegeszug ungehindert weiterführen will.

Der Nord/Süd-Gegensatz kann sehr belebend wirken und sollte nicht durch die Unterwerfung und Zähmung des Südens aus der Welt geschafft werden. Es zeigt sich immer wieder, wie listenreich und zäh sich das Südliche gegen die Vernördlichung zur Wehr setzt und trotz eklatanter Waffenungleichheit nicht unbedingt unterliegen muß.

Dieser Text war im wesentlichen als Einführung zu einem "Reisebuch Italien" zweier befreundeter Autoren gedacht - es kam dann anders, so mag er als Reflexion über "südlich/nördlich" und "deutsch/italienisch" noch Bestand haben.

Sommer 1990
pro dialog