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Gedanken über Kultur

1.3.1966, Aus: skolast Nr. 3-4, 1966
Es ist nicht leicht festzustellen oder zu bestimmen, was Kultur eigentlich ist oder heißt. Einfach vom etymologischen Wortsinn auszugehen, kann zwar eine Hilfe bedeuten, aber offenbar die Frage nicht zureichend beantworten: "cultura" von "colere" ... Bildung also. Ist Kultur damit genügend umschrieben?

Vielleicht kann die Antwort sogar befriedigen, doch muß man sie richtig verstehen. Es sei gleich vorweggenommen, daß Kultur nicht aus reinem Wissen bestehen kann, daß sich also eine Ansammlung von Kenntnissen, so allgemein und weitreichend sie auch sein mögen, niemals darum schon Kultur nenne kann. Auch genügt eine instinktiv-menschliche Gemütsreaktion noch nicht um echte Kultur zu sein: manchmal will man mit dem Wort "Herzensbildung" solche Erscheinungen dem Bereich der Kultur zuweisen, vielleicht auch mit einer leisen Polemik gegen die andere, die "Wissenskultur".

Wenn wir nun versuchen wollen, eine andere und umfassendere Bestimmung des Begriffes Kultur und seines Inhaltes zu finden, müssen wir uns bemühen, den Bogen so weit zu spannen, daß er tatsächlich alle menschlichen Kulturformen in sich zu fassen vermag.

In erster Annäherung muß Kultur wohl bedeuten, daß der Mensch sich seiner Umwelt bewußt wird und sie zu begreifen versteht. Sobald nämlich ein Mensch Klarheit gewonnen hat, welches "seine" Welt ist, wie er sich dazu stellt und wie diese Welt im Verhältnis zu ihm aussieht, ist schon ein großer Schritt auf dem Wege zu jener Bildung, die wir als Kultur bezeichnen, getan. Dieser erste Bewußtwerdung des Menschen, die wir vielleicht als eine Art Bestandsaufnahme ansehen können und die in der Erkenntnis und dem Wissen ihren Niederschlag findet, muß notwendig ein Begreifen folgen. Nur wer seine Welt - natürlich soweit sie ihn angeht und er direkt mitlebt - auch zu begreifen vermag, kann wahrhaft eindringen in die Gegebenheiten, denen er sich gegenübergestellt sieht und denen er begegnet. Jede Begegnung des Menschen mit einer Wirklichkeit, die er nicht nur kennt, sondern auch in ihrem Wesen und ihren Gesetzen begreift, bereichert und bildet ihn. Es ist klar, daß jeder Mensch in anderer Weise und in je verschiedenem Maße seine Umwelt kennt und begreifen wird und also einen je verschiedenen Grad dieses Bewußtseins erlangen wird. Das bedeutet deshalb aber noch nicht, daß nur jener der Kultur fähig wäre, der eine gewisse Höhe in Kenntnis und Wissen erreicht hat: Bewußtwerden und Begreifen ist jedem in den ihm eigenen Grenzen und Maßstäben aufgegeben.

Bliebe der Mensch aber beim Begreifen stehe, könnte man höchstens von einer passiven Aufnahme sprechen, die als solche noch keine Eigenleistung des Menschen darstellte (abgesehen von einer genauen und wahrheitsgetreuen Rezeption). Um wirkliche und wirksame Kultur zu werden, muß dem Erkennen und Begreifen ein Bewältigen folgen; dieses Bewältigen darf jedoch nicht einfach bedeuten,, daß man sich den erkannten und gegriffenen Inhalt schlechthin aneignet, sondern muß darüber hinaus eine kritische Stellungnahme und eigene Interpretation geben. Echte Kultur schließt eine wertende Gegenüberstellung mit ein, in der sich der Mensch Klarheit sucht über Wert oder Unwert, Annehmbarkeit oder Ablehnung, Gültigkeit oder Sinnlosigkeit jener Inhalte, mit denen er sich begegnet und an denen er sich messen muß. Bewältigen heißt also, in einer eigenen Kritik eine Beziehung zu dem gewinnen, das uns umgibt und in unserem Leben Bedeutung hat. Selbst wenn unser Urteil in allem positiv oder negativ sein sollte (was schwerlich der Fall sein dürfte), kann sich die Kultur einer solchen Wertung und selbständigen Beurteilung nicht entziehen. Andernfalls ist die Bewältigung nicht gelungen und auch die Aneignung war nicht echt, nicht wahrhaft errungen und aus Überzeugung vollzogen. Darum kann wohl eine echte und tiefgehende Kultur ohne die Auseinandersetzung, den Vergleich, die Begegnung, den fruchtbaren Austausch und das Gespräch überhaupt nicht besteht, und sollte auch das Gespräch und der Vergleich damit enden, daß sich die Ausgangspositionen gar nicht ändern: zumindest wurde größere Klarheit und echtere Sicherheit gewonnen und die Gültigkeit der Standpunkte in der Auseinandersetzung erprobt. Kultur ist darum ach Begegnung: wenn nicht materiell, gegenständlich, so doch zumindest geistig; notwendig ist also jede Kultur - und stamme sie aus der Klause eines einsamen Gelehrten - zwischenpersönlich.

Über das Erkennen, Begreifen, Bewältigen und Vergleichen hinaus hat die Kultur und wer sie verwirklicht noch eine Aufgabe: sie muß Eigenes schaffen und zu einer je neuen, d. h. selbsterworbenen Synthese menschlicher Werte kommen. Vielleicht ist das schon mit dem Vorigen genügend erläutert; vielleicht aber dedarf diese Forderung noch einer Erklärung. Es mag gut sein, diese letzte Forderung nicht an alle zu stellen, jedenfalls in dieser Form. Ist doch schon auch die selbständige Bewältigung und kritische Interpretation eines gegebenen Kulturinhaltes schöpferische Tätigkeit im wahren Sinn des Wortes. Wer darüber hinaus noch die Fähigkeit und die Gabe hat, muß allerdings einen weiteren Beitrag leisten: er muß sich bemühen, eigene Antworten auf seine Fragen zu finden, er darf sich nicht mit dem Nachdenken bereits gedachter Gedanken begnügen und sich nicht auf die Wiederholung bereits geübter Tätigkeiten beschränken; er hat die Aufgabe, neue Vorstöße zu wagen, die letzthin wohl immer auf das eine und einzige Ziel jeder Kultur hinführen: der Zeit und den Umständen entsprechend die menschlichen Wirklichkeiten wahrhaft menschlich zu gestalten und in diesem Bemühen immer weiter und immer tiefer zu gehen, immer mehr den je veränderten äußeren Umständen folgend und vor allem immer mehr auf sie einwirkend, damit sie den Weg gehen könne, der dem Menschen am meisten entspricht. Darum wird jeder Mensch, der eine hohe kulturelle reife erlangt, auf die Wirklichkeit einwirken und sie immer weiter verändern und vervollkommnen, mit dem Mut und der Kraft, die die menschlichen Dinge in ihrer Geschichtlichkeit erfordern.

Zwei Folgerungen scheinen sich hier zu ergeben: einmal die unmittelbare, daß in dieser Weise die Kultur nicht Sache einiger weniger und bevorzugter Menschen ist, die durch ihren Studiengang dazu eine besondere Berufung erhalten haben. Wohl haben diese Menschen eine ganz besondere Aufgabe und müssen darin eine ihnen eigene und anvertraute Sendung sehen, die also auch bestimmte Anforderungen stellt. Doch darüber hinaus ist jedem Menschen die Möglichkeit und der Auftrag gegeben, Kultur zu wirken und zu erleben, da sie zu jenen eigentlichen menschlichen Werten zählt, die zu seinem ureigensten Wesen gehören. Darum muß auch jedem Menschen die Möglichkeit gegeben werden, sich die ihm erreichbare und aufgegebene Kultur auch tatsächlich anzueignen.

Die zweite Folgerung ist nicht so sicher, sie ist eher eine Frage: wie viele Kulturen gibt es? Kann man schlechthin von einer östlichen und westlichen, christlichen und marxistischen, liberalen und konservativen Kultur sprechen? Eher ist die Kultur als solche wohl eine einzige, ein "modus vivendi", eine Aufgabe, die von verschiedenen Menschen eben verschieden gelöst wird und wie alle menschlichen Tatsachen der geschichtlichen Umstände Rechnung zu tragen hat. Mit einer solchen Auffassung öffnen sich der menschliche Begegnung und dem Dialog neue Türen, die von alten Barrieren nichts mehr wissen.
pro dialog