Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Südtirol - Alto Adige

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Identität zwischen Heimat und globalen Disneyland

26.10.1990, Wiener Akademie für Zukunftsfragen - Frieden schliessen
Südtirol mit seinem Zusammenleben zwischen den drei Volksgruppen (deutscher, italienischer und ladinischer Sprache) kann heute ein relativ entspanntes und positives Beispiel einer pluri-ethnischen und pluri-kulturellen Gesellschaft abgeben.

Natürlich kann nichts davon einfach verallgemeinert werden: gerade ethnische Konfliktsituationen müssen im Grunde jeweils einzeln und für sich besehen werden. Doch läßt sich aus der Erfahrung Südtirol immerhin einiges Interessante lernen, und zwar sowohl auf der Ebene der institutionellen Konfliktbewältigung als auf der Ebene der zivilen Gesellschaft.

Das war nicht immer so, und aus Südtirol hätte auch durchaus ein Negativbeispiel werden können - daß es anders gekommen ist, hat viel Anstrengung von vielen Seiten erfordert.

Bekanntlich geschah Südtirols Annexion an Italien gegen den Willen der Bevölkerung und wurde von Italien als eine Art historischer Revanche gegenüber der früheren österreichischen Vormacht in Norditalien und als Retourkutsche zur verweigerten Autonomie des Trentino verstanden. Mehrere Jahrzehnte hindurch - und nicht nur unter dem Faschismus - wurden "eindeutige Lösungen" angestrebt: sei es durch erzwungene "Inclusion" (Einverleibung, Assimilation der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler), sei es durch erzwungene "Exclusion" (Aussiedlung, durch das Hitler-Mussolini-Abkommen zur Option; Politik der von Südtiroler Seite befürworteten strengen Volksgruppentrennung). Doch nicht nur die Machthaber arbeiteten in diese Richtung; auch in der Bevölkerung hielt man die Vorstellung hoch, die jeweils anderen sollten sich entweder anpassen oder aus dem Lande verschwinden ("die Italiener sollen dorthin gehen, woher sie gekommen sind"; "wer sich nicht als Italiener fühlt, soll über den Brenner hinaus"); wobei die italienische Seite eher an Assimilierung (Italianisierung) und die deutschsprachige Seite eher an die ethnische Säuberung des Landes (Rückverdeutschung) dachte - beide jedenfalls an einen "reinen Tisch", ohne die Mühsal ethnischer, sprachlicher und kultureller Komplikationen. Das Pendel schwenkte ziemlich lange hin und her zwischen den Volksgruppen, die jeweils im Vorteil waren, und den Lösungen, die angestrebt wurden, wobei es zeitweise zuwenig "Regelung" (z.B. Minderheitenschutz, Anerkennung und Durchsetzung des Rechts aus Muttersprache, Identität, politische Betätigung...) und zeitweise zuviel "Regelung" (ethnische Abgrenzung, Festschreibung der ethnischen Rechte und Pflichten) gab. Aber darauf kann in der gebotenen Kürze hier nicht eingegangen werden. Es sei nur soviel gesagt: durch das "Südtirol-Paket" (1969 vereinbart, ab 1972 zunehmend ausgestaltet und durchgeführt) sind viele positive Veränderungen in Gang gekommen, doch hat sich auch eine gewisse ethnische Verhärtung eingestellt, weil man die Verteilung von Macht und Ressourcen allzustark über die ethnische Schiene kanalisieren wollte. Erst in den letzten Jahren macht sich nun endlich eine gewisse Lockerung bemerkbar: man beginnt - nicht bloß in den kleinen, mutigen und angefeindeten Pioniergruppen der inter-ethnischen Versöhnung (die jahrelang als "Verräter" und "Verbrüderungsapostel" diffamiert wurden) - die mehrsprachige und pluri-kulturelle Situation des Landes nicht mehr als einen Nachteil, als Verdammung zu empfinden, sondern als einen Vorteil und einen Vorzug, den viele nicht mehr missen möchten. Neben der Einzel-Identität der drei Volksgruppen, die gewiß weiterhin lebendig und von großer Bedeutung ist, entsteht immer stärker so etwas wie ein supra-ethnisches gemeinsames Südtirolertum ("Gesamtsüdtiroler"), das sich in der alltäglichen Lebenspraxis, in den gesellschaftlichen Zusammenhängen und im Bewußtsein der Menschen niederschlägt. Man hat viel miteinander zu tun, beherrscht häufig beide Sprachen (die Ladiner alle drei) und kann sich eigentlich eine Reduktion auf Einsprachigkeit oder "ethnische Reinheit" nicht mehr so recht vorstellen. Als gesellschaftliches Ziel wäre sie heute von niemandem mehr offen vertretbar - was vor fünfzehn Jahren noch ganz anders war. Der Streit, als wessen Heimat Südtirol zu gelten habe und wer dort Heimatrecht genießen dürfe, scheint sich allmählich zugunsten einer gemeinsamen Heimat Südtirol für mehrere Volksgruppen entschieden zu haben.

Zu den Voraussetzungen, die eine solche Entkrampfung nach und nach möglich gemacht haben, gehört nicht nur die zähe Arbeit der verschiedenen Versöhnungskräfte, die oft kräftig gegen den Strom rudern mußten, sondern auch eine Reihe privilegierter Aspekte der Südtiroler Situation im Vergleich zu anderen ethnischen Spannungsgebieten: dazu möchte ich insbesondere eine relativ gute Wirtschaftslage, den demokratischen Rahmen (der Republik Italien und des österreichischen Partners; und natürlich in Südtirol selbst), die gemeinsame (katholische) Konfession und die Gleichrangigkeit der beiden großen Sprachen (deutsch und italienisch) nennen. All dies hat dazu beigetragen, daß sich zwischen drei auf demselben Territorium zusammenlebenden Volksgruppen ein recht gutes Miteinander entwickelt hat, obwohl es an Konflikten, Trennungspolitik, Entrechtung, Vorschlägen sogar zur räumlichen Trennung und Übergriffen nicht mangelte.

Wenn ich nun hervorheben möchte, welche spezifischen Lösungen meines Erachtens den relevantesten Ausschlag in die positive Richtung gegeben haben, würde ich folgende nennen:

auf institutioneller Ebene: a) die territoriale Autonomie (also ein hohes Maß regionaler Selbstverwaltung); b) die Absicherung bestimmter gegenseitiger ethnischer Garantiemaßnahmen; c) die Anerkennung und relative Förderung der Mehrsprachigkeit des Landes;

auf gesellschaftlicher Ebene: die Existenz und das zähe Wirken inter-ethnisch ausgerichteter Bewegungen und Gruppen, die den positiven Willen zum Zusammenleben, die ethnische Versöhnung und den Abbau ethnischer Trennungsmechanismen systematisch betrieben und inter-ethnisches Bewußtsein und volksgruppenübergreifende Praxis gefördert haben.

Dazu noch einige Worte zur näheren Erklärung.
Auf institutioneller Ebene:

a) Die territoriale Autonomie Südtirols sichert dem Lande insgesamt ein hohes Maß an Selbstregierung und schottet Südtirol in gewissem Maße von der übrigen italienischen Verwaltung und Politik ab; durch die Brennergrenze ist Südtirol auch gegenüber Österreich abgeschottet, und die Volksgruppen haben es schließlich akzeptiert, sich enger miteinander zu befassen und die Geschicke des Landes gemeinsam zu gestalten, statt die jeweiligen Protektoren im Rücken auf den Plan zu rufen. Eine multikulturelle Gesellschaft scheint mir auf einem engeren territorialen Rahmen, wo sich so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln kann, leichter und konkreter möglich, als auf einer undefinierten allgemeinen Ebene.

b) Die positiv zu beurteilenden ethnischen Garantien betreffen vor allem den Gebrauch der Muttersprache und das Recht auf freie Entfaltung der ethnischen und sprachlichen Identität; ein gewisses Recht auf politische Partizipation (z.B. Vertretungsgarantie der Volksgruppen in den Gremien) und Absicherung gegen allzugroße Gleichgewichtsstörungen (z.B. durch einseitige Handhabung des Haushalts). Weniger positiv - ja, häufig offen negativ - wirkt der ethnische Garantie- und Verteilungsmechanismus des "ethnischen Proporzes", der Posten, Wohnungen, politische Rechte und gewisse Subventionen von der ethnischen Zugehörigkeit abhängig macht und damit natürlich die ethnische Frontstellung stimuliert.

Global betrachtet scheinen mir strukturelle Garantien (z.B. Zweisprachigkeit der Verwaltungen, freie Schulwahl und freie Wahl der Amts- und Gerichtssprache bei mehreren Angeboten, usw.) besser als personelle Garantien (deren Inanspruchnahme vom expliziten Zugehörigkeitsbekenntnis zu einer Gruppe abhängt).

c) Die Mehrsprachigkeit des Landes ist gesetzlich verankert und auch in der Praxis immer stärker und konkreter realisiert: Südtirol dürfte heute das Land mit dem vergleichsweise höchsten Prozentsatz an tatsächlich zweisprachigen (Ladiner: dreisprachigen) Menschen (nicht nur Beamten) sein, und der Gebrauch mehrerer Sprachen nebeneinander bei Veranstaltungen, in Publikationen, bei öffentlichen und privaten Anlässen gehört immer mehr zu den Südtiroler Selbstverständlichkeiten. Auch hier gibt es im normierten Bereich manche Übertreibung, aber im großen und ganzen kann man sagen, daß diese Besonderheit der Südtiroler Situation mittlerweilen Anerkennung und Zustimmung findet. Die Verflechtung - nicht Verwischung - der Sprachen und Kulturen wird merkbar enger und trägt Früchte. Alle drei im Lande vertretenen Sprachen und Sprachkulturen sind anerkannt und gefördert.

Auf gesellschaftlicher Ebene:

Eine solche Entwicklung wäre wohl nicht möglich gewesen, hätte es nicht in der Südtiroler Gesellschaft zumindest seit Mitte der 60er Jahre eine aktive Minderheit gegeben, die den Weg zur inter-ethnischen Verständigung und zum freundschaftlichen Zusammenleben erkundet, erprobt, vorgelebt und mit Nachdruck vertreten hätte. Ohne diese Pioniere, Versuchskaninchen, Brückenbauer und Garanten des Zusammenlebens hätten wahrscheinlich auch in Südtirol Nationalismus und Intoleranz - die ja reichlich auf beiden Seiten vorhanden waren - die Oberhand gewonnen. Daraus würde ich - verallgemeinernd - den Schluß ziehen, daß die aktive Bejahung und Beförderung multikultureller Bestrebungen nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn es auch Kräfte gibt, die sich bewußt und gekonnt den Mauern zwischen den Gruppen entlang bewegen und auf vielfältige und phantasievolle Art (und mit der nötigen Einfühlung, Zähigkeit und Unerschrockenheit) daran arbeiten, diese Mauern zu erkennen, abzulehnen, zu relativieren, infragezustellen, selbst zu überwinden, zu übersteigen, zu öffnen und schließlich abzutragen. Die "Kunst des Zusammenlebens" ist keine leichte, die "multikulturelle Gesellschaft" - die nicht immer eine positive Entscheidung ist, sondern für viele nichts mehr und nichts weniger als eine unvermeidliche Entwicklung darstellt - braucht den Einsatz von Menschen und Gruppen, die quer durch die Lager denken und handeln, Mauern zu überspringen oder zu unterlaufen verstehen und gemeinsame Erfahrungen und Standpunkte zu erarbeiten vermögen. Nicht Überläufer vom einen zum anderen Lager, und auch nicht bloß Ankläger der Mauern, sondern Menschen und Gruppen, die tatsächlich imstande sind, so feste und gegenseitige Bande von der einen zur anderen Seite der Mauern zu knüpfen, daß es auch noch in Krisenzeiten gelingt, gemeinsame Äußerungen zu tun und gemeinsame Initiativen zu setzen, ohne sich durch die ethnische Mobilisierung in die Schützengräben zurücktreiben zu lassen.

In Südtirol ist es gelungen, neben den ethnisch definierten und gegeneinander abgegrenzten blockartigen Lagern auch noch einen festen und immer solideren "entmilitarisierten Mittelstreifen" aus Menschen aller Volksgruppen (und "Zwischenzonen") zu entwickeln, der sich mittlerweilen sehr vielfältig äußert und nicht strikt auf einen Nenner zu bringen ist. Dieser "inter-ethnische Mittelstreifen", dessen politisch relevantester Ausdruck heute das grün-alternative Spektrum in Südtirol ist, umfaßt Menschen im kirchlichen Bereich, in den Gewerkschaften, in Schule und Kultur, bei den Medien, im Alltag, im Bereich der (von manchen verpönten) "gemischten Familien" - und zwar in Stadt und Land, und beileibe nicht nur in elitären oder sozialprivilegierten, aufgeklärten Zirkeln.

Die Erfahrung dieser inter-ethnischen Versöhnungsbewegung des guten Zusammenlebens ist vielleicht das Wertvollste, was die Südtiroler Erfahrung bisher für die Bemühungen um Aufbau und Akzeptanz einer multikulturellen Gesellschaft hergibt - sowenig die vorher skizzierten sozio-ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen vergessen werden dürfen.

Die Probe aufs Exempel, in puncto multikultureller Leistungsfähigkeit, wird nun allerdings auch Südtirol gegenüber den neuen, häufig "andersfarbigen" Menschen aus fremderen Kulturen und schwierigeren sozialen Verhältnissen zu erstatten haben. Die steht noch vor uns.



Herbstakademie 24.-26.Oktober 1990
Multikulturelle Gesellschaften in der Gegenwart - Fallstudien: Südtirol



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