Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Südtirol - Alto Adige

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Miteinander, nebeneinander: Über das Zusammenleben in Südtirol

7.5.1986, Vortrag in der Urania Meran, am 7. Mai 1986
1. Situationen der Berührung, des - mehr oder wenigen freiwilligen - Zusammenlebens zwischen Nationalitäten oder Volksgruppen werden in Europa und in der industrialisierten Welt immer häufiger werden. Mögen sie heute noch als die Ausnahme angesehen werden, dürften sie in Zukunft vor allem in den Metropolen zur Regel werden. Dies ist andererseits nicht so neu, wie man vielleicht meint: auch in früheren oder vor-industriellen Gesellschaften ist die nationale Eindeutigkeit oder Einsprachigkeit mitnichten die Regel.

2.
Um solche Situationen zu meistern, braucht es eine "Kultur des Zusammenlebens", während heute noch vielfach Lebensformen und Kulturen vorherrschen, die das Nationale sehr betonen: manchmal geradezu als offensive Abhebung und Abgrenzung gegen andere, häufiger als stillschweigende Selbstverständlichkeit, wo "die anderen" einfach nicht vorkommen. Durch die verschiedenen Krisenerscheinungen sind Fremdenhaß und Intoleranz eher im Vormarsch.

3.
In Südtirol wären die Voraussetzungen für eine "Kultur des Zusammenlebens" eigentlich sehr gut: eine lange Tradition der Zusammengehörigkeit eines mehrsprachigen Landes und... Volkes (Tiroler); zwei ebenbürtige und durchaus konkurrenzfähige Sprachen und Kulturen, die beide "Halbinseln" gegenüber ihrem Mutterland sind, und eine sowieso seit jeher auf Zusammenleben orientierte Regionalsprache und -kultur (das Ladinische); ein relativ günstiger Rahmen, wirtschaftlicher, sozialer, politischer und rechtlicher Voraussetzungen; das Fehlen unüberwindlicher historischer Gräben (man vergleiche etwa die Lage zwischen Griechen und Türken, oder auch nur in Irland zwischen Protestanten und Katholiken, usw.).

4.
Die politischen Umstände und die politische Ausrichtung der vorherrschenden Kräfte in Südtirol haben - leider - dazu geführt, daß diese günstigen Voraussetzungen wenig genützt und in den letzten zwei Jahrzehnten nach und nach sogar ausgehöhlt und strapaziert wurden. Das politische System Südtriols und dessen kleinliche Ausgestaltung auf allen Ebenen hat die Voraussetzungen für eine "Kultur des Zusammenlebens" verkümmern lassen bzw. sogar bewußt abgebaut, und stattdessen die Elemente einer gegenteiligen Kultur gezielt entwickelt und gefördert: es herrscht eher eine Kultur des ethnischen Tauziehens, der beständigen Abgrenzung, des Zwangs zur ethnischen Geschlossenheit und Blockbildung, der Frontstellung gegeneinander vor. In der Diskussion um die Autonomie wird vor allem von SVP-Seiten immer wieder betont, daß der eigentliche Zweck der Schutz der Tiroler Minderheit, nicht das Zusammenleben sei (das erinnert an bestimmte kirchenrechtliche Diskussionen über den Haupt- und die Nebenzwecke der Ehe: Kindererzeugung bzw. Liebe - als ob das eine ohne das andere Sinn hätte!). "Je klarer wir trennen, desto besser verstehen wir uns" ist der Wahlspruch dieser Konzeption des Zusammenlebens geworden; die ethnische Aufschreibung von 1981 ihre deutlichste und folgenschwerste Ausformung.

5.
Dabei soll nicht übersehen werden, daß - abgesehen vom politischen System - bei der Bevölkerung die Voraussetzungen für ein gutes Zusammenleben recht unterschiedlich sind und waren: bei deutsch- und ladinischsprachigen Südtirolern waren im Durchschnitt bessere Vorbedindungen vorhanden (Kenntnis der anderen, der Sprache usw.), aber - aus historisch verständlichen Gründen - weniger Bereitschaft; bei italienischsprachigen Südtirolern mehr theoretische Bereitschaft und geringere konkrete Vorbedingungen (Einfühlungsvermögen, Sprachkenntnis usw.). Es ist möglich, daß diese divergierende Linie in Zukunft sogar umgekehrt verläuft und die deutschsprachigen Südtiroler vielleicht zum Zusammenleben bereit sein werden, sobald die Südtirolitaliener keine Lust mehr dazu haben.

6.
Die Sternstunde der Begegnung wurde aus politischer Kurzsichtigkeit und vielleicht auch Böswilligkeit versäumt: sie wäre in den Jahren etwa von der Mitte der 70er bis in die Mitte der 80er Jahre zu suchen gewesen, als sich die deutschsprachigen Südtiroler schon stark genug und die Italiener noch nicht zu schwach fühlten. Damals hat es ja auch die stärksten Bewegungen fürs Zusammenleben und gegen die Trennungspolitik gegeben (Elternbewegung für die Früherlernung der deutschen Sprache, Schüleraustausch, zweisprachiges Theater, Bewegung gegen die Ethno-Volkszählung...); diese Bewegungen, die eine positive Grundhaltung zur Autonomie implizierten, wurden jedoch im Stich gelassen und meistens sogar grimmig bekämpft. Heute drohen andere Strömungen die Oberhand zu nehmen: auf italienischer Seite die Autonomieablehnung, auf deutscher Seite die Überstrapazierung der Autonomie (oder, bei Intellektuellen, die Abwendung von dieser ganzen Problematik).

Jedenfalls wurde diese Sternstunde zerstört, und so tritt nun wachsende Blockbildung und -versteifung an ihre Stelle. Wer vom Nebeneinander spricht, meint in Wirklichkeit ein kühles Ohneeinander, häufig auch ein nicht ganz offen zugegebenes Gegeneinander.

7.
Es läßt sich nicht gut zusammenleben, solange die Überzeugung verbreitet und gefördert wird, es ließe sich im Grunde ohne "die anderen" besser leben, man sei "ohne sie" eben unter sich und ungestört... Wie soll das Zusammenleben wachsen und blühen, wenn auf beiden Seiten die stillschweigende oder gar ausdrückliche Vorstellung besteht (und genährt wird), es sei im Grunde das Beste, die "anderen" würden verschwinden - oder sich aufsaugen lassen?

8.
So hat in den letzten Jahren - und insbesondere seit der unheilvollen und von vielen verharmlosten ethnischen Option 1981 - ein Prozeß der Erosion des Zusammenlebens stattgefunden: Vereine, Aktivitäten, selbst Gewerkschaften und Kirchen spüren die wachsende Spannung, die größerwerdende Schwierigkeit, "miteinander" zu wirken; die Selbstverständlichkeit der Trennung macht Fortschritte, die Mühe des Zusammenlebens scheint immer mehr Menschen unzumutbar oder jedenfalls übertrieben. Ein Erosionsprozeß kann - wenn überhaupt - nur am Anfang aufgefangen und vielleicht gebremst oder gar zum Stillstand gebracht werden, später läßt sich nicht mehr viel retten.

9.
Um die Erosion des Zusammenlebens zu stoppen und positive Möglichkeiten zu entwickeln, braucht es eine aktive Förderung, eine aktive Politik der gegenseitigen Akzeptanz. Das ist beileibe nicht nur eine Frage von Normen und Behörden, sondern findet auch im Alltag statt. Aber zumindest dürfen Normen und Behörden nicht in die gegenteilige Richtung arbeiten! Es wäre schon viel, wenn in unserem Lande die Entscheidung für das bürgerliche Zusammenleben genausoviel Existenzberechtigung und genausoviel Entfaltungsmöglichkeiten hätte wie der Volkstumskampf. Davon sind wir aber noch weit entfernt.

10.
"Je mehr wir miteinander umgehen, desto besser verstehen wir uns". Dieser Satz sollte lieber praktiziert werden. Das erfordert Übung in der nicht leichten (und heute schwieriger gewordenen) Kunst der Pflege des Zusammenlebens, die viel Einfühlung, viel Takt, viel Rücksicht, viel Phantasie erheischt. Vor allem ist es eine Frage der Atmosphäre, der Grundstimmung, der Bereitschaft - was sich bekanntlich auf allen Ebenen und nirgens allein ausdrückt. Hat man kunstvoll die Trennung praktiziert, sollte man in Zukunft mindestens ebenso erfindungsreich das Zusammenleben fördern.

11.
Dazu braucht es Menschen, die sich nicht allein als Angehörige ihrer Volksgruppe fühlen, sondern Gesamtsüdtiroler sind oder werden wollen. Die also ein Zusammengehörigkeitsempfinden vertreten, das die gesamte Bevölkerung unseres Landes umfaßt, eine übergreifende Identitätsstiftung fördert, eine Gesamtverantwortung für dieses Land und alle seine Bewohner bejaht. Und dies, obwohl es geradezu verpönt und gesetzlich sozusagen verboten ist (muß sich doch jeder zu seiner Volksgruppe bekennen und durch den Proporzmechanismus unweigerlich die einen schwächen, um die anderen zu stärken, und umgekehrt).

12.
Unser Land braucht heute mehr denn je solche Gesamtsüdtiroler, die den Entzweiungsprozeß aufhalten und aktiv für einen Einigungsprozeß arbeiten. Wenn man den Dingen ihren Lauf läßt, ist jetzt schon vorgezeichnet, daß das bisherige Modell des "wohltemperierten Konfliktes" schon sehr bald außer Kontrolle geraten wird. Es ist also eine patriotische Pflicht, heute für die Möglichkeit eines solchen "Gesamtsüdtirolertums" zu arbeiten: andernfalls wird auch die Autonomie keinen langen und festen Bestand haben, von weitergehenden Erwartungen ganz zu schweigen. (Es bräuchte eigentlich gar nicht gesagt zu werden, aber der Klarheit halber sei es angemerkt: "Gesamtsüdtiroler" meint nicht eine Retortenmischung, sondern einfach Menschen, die ihre wohlverstandene ethnische und sprachliche Identität in den größeren Rahmen unserer "Landeseinheit" einzubringen vermögen. Helvetia docet.)

13.
Platz zu machen für Gesamtsüdtiroler in unserem Lande ist aber nicht nur eine patriotische Pflicht(übung), sondern auch der schönste Weg, aus der Besonderheit unseres Landes eine gewissermaßen einmalige Chance zu machen und zu nutzen - eine Chance, die uns viele neiden.

pro dialog