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Das Paket: Konkordat in Krise? Gesamtsüdtiroler gesucht!

1.10.1984, Tandem, September/Oktober 1984
Die Zeichen, daß mit Südtirol manches nicht stimmt, mehren sich. Denken wir nur an das unheilvolle Eigenattentat in Lana mit den zwei Toten - was wollten die beiden Schützen wohl erreichen? - oder an den unguten Massenaufmarsch der italienischen Alpini-Veteranen in den nächsten Tagen in Bozen.

Aber das sind die auffälligen Symptome - die anderen sind unauffällig, jedoch bedeutsamere. Zeichen der Spannung, des Unbehagens, des Revanche-Denkens, der Angst, des Mißtrauens, der Feindseligkeit, der Absonderung, des Gruppen-Egoismus...

Vielleicht kann man die Malaise auf folgenden Nenner bringen:

1. das "Paket" als zwischen SVP und italienischem Staat ausgehandelte Lösung der Südtirolfrage stellte einen konkordatsähnlichen Kompromiß dar, der eine gegenseitige Teilung der Einflußsphären und der Zuständigkeiten, eine Interessenvermittlung, eine wechselseitige Nichteinmischung und vor allem die gegenseitige Anerkennung und Absprache zweier Mächte bedeutete, die als Voraussetzung zum Konkordat und zur Zusammenarbeit ihre jeweils mit dem Partner unvereinbaren Ziele aufgaben. Die SVP mußte auf die Selbstbestimmung für Südtirol verzichten, der italienische Staat auf die Entnationalisierung und Assimilation der deutsch- und ladinischsprachigen Tiroler. Das "Paket"-Konkordat zwischen den beiden Verhandlungsmächten ging - wie so oft die Absprachen an der Spitze - über so manche Köpfe hinweg (die man allerdings glaubte, niederhalten zu können), gedachte den "status quo" zu verewigen und gründete auf dem damaligen Kräftegleichgewicht zwischen den Vertragsparteien.

2. Die Kompromißbasis für das "Paket"-Konkordat ist inzwischen weitgehend angeschlagen, verändert, in Frage gestellt - und vielleicht schon gar nicht mehr gegeben. Die vielfältige Absage und Forderung nach Revision kommt dabei von verschiedenen Seiten, ausdrücklich und implizit; am nachhaltigsten und wirksamsten - vorläufig - von deutsch-südtiroler Seite, und zwar auch aus einflußreichen SVP-Kreisen; die "Paket"-Kritik von dieser Seite ist Ausdruck der Stärke, nicht der Schwäche.

Wie alle Konkordatsregelungen erwies sich auch das "Südtirol-Paket" (im Laufe der Zeit immer deutlicher) für jene "Nicht"- oder "Andersgläubigen" bitter, die nicht unter dem Schirm der beiden Verhandlungsmächte standen oder stehen. Wie bei allen Konkordatsregelungen sah der Kompromiß beiderseits Geschlossenheit und korporative Einordnung statt Demokratie und individueller Freiheiten vor. Wie bei allen Konkordatsregelungen stand und steht die Machterhaltung und die gegenseitige Machtgarantie der Vertragsmächte hoch über den Rechten und Freiheiten der Bürger der einen und/oder der anderen Ordnung.

Die Prämissen sind verändert

Konkordate sind vielleicht nicht besonders demokratisch, können aber durchaus - auch auf lange Zeit - den gegenseitigen Frieden zwischen den vertragsschließenden Mächten sichern; manchmal halten sich die Ungerechtigkeiten und Übergriffe gegenüber den Nicht- und Andersgläubigen sogar in erträglichen Grenzen. Auch das "Südtirol-Paket" hätte vielleicht die Voraussetzungen dazu in sich gehabt, auf lange Zeit hinaus eine dauerhaft und im großen und ganzen segensreiche Befriedigung zu bringen (Befriedigung ist nicht unbedingt mit Freiheit und Recht gleichzusetzen).

Daß dies kaum mehr als zehn Jahre alte Konkordat heute schon in Krise ist, hat zahlreiche und verschiedene Ursachen, die ich hier bequemlichkeitshalber zusammenfasse und vereinfache:

a) das Kräftegleichgewicht hat sich auf allen Ebenen geändert (in Wirtschaft, Politik, Machtzuweisungen, sozialen Positionen) - die sogenannte Volkszählung 1981 mit ihren zusätzlich noch zugunsten der deutschen Sprachgruppe verzerrten Ergebnissen hat dies am sichtbarsten (und, übrigens vorhersehbar) zum Ausdruck gebracht, obwohl sich darin ja bei weitem nicht alle geänderte Aspekte im einzelnen niederschlugen.

b) Im besonderen sehen viele innerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft nicht ein, warum man auf dem Weg der erfolgreichen Forderungs- und Machtpolitik halt machen sollte statt den Vormarsch so weit als möglich voranzutreiben, solange man die (tatsächliche oder vermeintliche) Gunst der Stunde nützen kann - und dieser Standpunkt setzt sich auch in der politischen Vertretung immer stärker durch. Viele innerhalb der italienischen Sprachgemeinschaft haben hingegen den Eindruck, daß ihnen erst jetzt die Augen über die tragweite und die ferneren Implikationen des "Pakets" so richtig aufgehen und sehen sich als die hauptsächlichen Opfer auf dem Altar der Versöhnung zwischen SVP und Staat. Auch dieses Erwachen schlägt natürlich in der Politik zu Buche.

c) Bei den Ladinern sind die Veränderungen etwas komplizierter zu beschreiben: als Redaktion auf ihre de facto vorgesehene Eingemeindung bei den größeren Sprachgruppen (insbesondere bei der deutschen) und gefördert durch den dem "Paket" innewohnenden Zwang zur Geschlossenheit der Volksgruppen, läßt sich eine deutliche Tendenz zur nachhaltigeren Selbstbehauptung vermerken, die möglicherweise einen in der "Paket"-Logik eigentlich nicht vorgesehenen "dritten Pol" ins Spiel bringt - aber vielleicht durch finanzielle und politische Kompromisse auch gebändigt und zur Untermiete bei den Deutsch-Südtirolern veranlaßt werden könnte.

Unleugbar ist jedenfalls ein allseits bemerkbares "Abrücken vom Paket": sowohl auf der Ebene der Bürger und Menschen als auf jener der Politiker und Parteien. Die Amtsverteidiger des "Pakets" in Politik, Kirche, Medien und Gewerkschaften haben es immer schwerer.

Vom "Paket"-Konkordat nicht berücksichtigte, ja teilweise geradezu ausgeschlossene Kräfte und Tendenzen haben sich trotz des gewaltigen Drucks nicht einebnen und niederhalten lassen und melden sich mit anderen Vorstellungen über Autonomie, Minderheitenschutz und Zusammenleben zu Wort. Obwohl die zentrale, fast einzige vom "Paket" vorgesehene und bis ins Tausendste geregelte Dynamik eine ethnozentrische Dialektik der (beiden größten) Volksgruppen sowie eine ebenfalls vorwiegend ethnozentrische Dialektik zwischen Zentralstaat und Autonomie sein und sich alle andere Bewegung in der Südtiroler Gesellschaft dieser ethno-autonomistischen Dynamik ein- und unterordnen sollte (so ist das System ausgeklügelt und programmiert), gab und gibt es immer wieder Kräfte, die mehr oder minder deutlich aus den ethnischen Ghettos ausbrechen und eine freiere und mehrdimensionale Gesellschaft postulieren und praktizieren. Die "Volkstumsverweigerer" von 1981 sind die stechendste Speerspitze dieser Un-Ordnung und Um-Ordnung - den mehrsprachigen Allianzen fürs "andere Südtirol" vergleichbar - aber auch sonst keimt so manches in Kultur, Gewerkschaft, Jugend, Kirche usw. (obwohl die Tendenz der letzten Jahre auch von vielen reumütigen Heimkehrern zu berichten weiß, die ihren Ausbruchsversuchen aus der ethnozentrischen Ordnung schon wieder laut oder leise abschwören.

Wesentlich für die Glaubwürdigkeit und Fruchtbarkeit dieser Um-Ordnungsstifter ist natürlich, daß sie einerseits in allen Volksgruppen echt verwurzelt und zugleicht der Volksgruppenlogik in keiner Weise zuzuordnen sind.

das "Paket"-Konkordat erheischt zu seiner reibungslosen oder zumindest reibungsarmen Durchführung eine erhebliche Isolierung Südtirols vom größeren europäischen Kontext - mit Ausnahme der höchstens strukturell und politisch stark verwandten Alpenregionen. Nun ist zwar der Aufbau einer weitgehenden sozial-politischen Autarkie-Ordnung im letzten Jahrzehnt stark forgeschritten - aber ganz dicht läßt sich die Grenze doch nicht machen, sosehr man dies (vor allem bei Salurn, aber auch am Brenner) auch möchte und versucht. Eine gewisse Freiheit und Vielfalt zumindest der Ideenzirkulation läßt sich (trotz aller Anfeindungen und Verhütungsmaßnahmen, beispielsweise gegen eine Universität) nicht ganz unterbinden. In der Interaktion zwischen Prozessen in und um Südtirol liegt also auch ein potentieller - noch wenig entfalteter - Krisenfaktor für die "Paket"-Ordnung: der absolute Sonderfall Südtirol muß sich eine gewisse Relativierung gefallen lassen (zumindest angesichts der Atomkriegs- und Umweltzerstörungsgefahr). Darin liegt eine Chance, die bisher zu wenig genutzt wurde.

Es gibt kein "zurück zum Paket"

Was nun allerdings die Sache bei uns in vielem so schwierig und das aktive Anstreben von Veränderungen gegenüber dem "Paket"-Konkordat in gewissen - auch wohlgesinnten - Augen schon von vorneherein suspekt macht, ist der betrübliche Umstand, daß die meisten Menschen in Südtirol schon so sehr im Volkstumsdenken gefangen sind, daß sie sich Veränderungen des festgeschriebenen Gleichgewichts immer nur zu Gunsten oder zu Lasten der einen oder anderen Volksgruppe vorstellen können: des einen Freud, ist des anderen Leid - auch darin war die Ethno-Volkszählung exemplarisch, wo jeder Gewinn der einen Seite ein Verlust der anderen sein mußte. Diese Logik treibt zur Kraftmeierei und zur (offensiven oder defensiven) Gewaltanwendung - ja, es liegt geradezu ein gewisses "Bürgerkriegspotential" darin.

Deshalb ist bei allem Willen der Veränderung bei uns auch so viel Einfühlung und Vorsicht geboten: einmal vollzogene Veränderungen des bestehenden Gleichgewichts lassen sich nicht mehr so leicht zurücknehmen - sogar Worte und Drohungen, Forderungen und Sprachregelungen. Noch einmal muß ich auf die Volkszählung 1981 Bezug nehmen: das einmal angerichtete Unheil wird sich auch durch später vielleicht einmal oktroyierte Korrekturen nicht mehr so leicht gutmachen lassen (selbst wenn der jetzt erreichte Ethno-Kataster wieder zerstört werden sollte, was wir hoffen und anstreben).

Andererseits hat die Krise des "Paket"-Konkordats schon einen Stand erreicht, auf dem - selbst wenn man es wollte - ein "zurück zum Paket" nicht mehr möglich wäre: es gibt nur einen Weg vorwärts. Jene gemäßigte Utopie vom gemäßigten Zusammenleben zwischen den Volksgruppen und zwischen Autonomie und Zentralstaat mit gemäßigter Konfliktregelung zwischen allen Beteiligten am "Konkordat", die eigentlich im "Paket" geplant war und zu der heute nur eine relativ schwache Minderheit von Protagonisten in Politik, Medien, Gewerkschaften und Kirche steht, wird nach und nach von anderen Konzepten verdrängt, die zwar nicht immer theoretisch offen ausformuliert, dafür aber in der Praxis umso gezielter schrittweise eingeführt und in systematische vollendete Tatsachen verwandelt werden. Die derzeit praktizierte Phase geht von der (gemäßigten) Form des "friedlichen Nebeneinanders" (das "Miteinander" ist schon vorbei) zum immer systematischeren Auf- und Ausbau von nebeneinander und auch gegeneinander existierenden Parallel-Gesellschaften. Die Selbstverständlichkeit des Prinzips - "jede Volksgruppe für sich" - bis hinein in Jugend, Gewerkschaft, Kirche, Ökologie, Sport, Freizeit... - wird langsam auch zur Selbstverständlichkeit der Tatsache, daß es einem desto besser geht, je weniger man mit "den anderen" zu tun hat; eine Selbstverständlichkeit, die durch Gesetze und Strukturen, Verwaltung und Alltag gefördert wird und sich zumindest bei den beiden großen Sprachgruppen auch immer mehr durchsetzt.

Doch wie bei einer Krankheit oft das eine Stadium vom nächstschwereren nicht eindeutig zu trennen ist, macht sich im Schatten der Volksgruppentrennung (ob friedlich oder feindselig - das sind meist auch nur Schattierungen derselben Stufenleiter) ein anderes Konzept und dessen ethnisches Gegenstück immer stärker und nachdrücklicher breit: das der systematisch betriebenen "Rückverdeutschung" (in Gedanken, Worten und Werken, müßte man sagen) auf der einen und der symmetrisch dazu wachsenden Autonomiefeindlichkeit auf der anderen Seite.

Ich kann diese Tendenz jetzt hier nicht weiter beschreiben und analysieren; was ich damit sagen will, ist im wesentlichen folgendes: der "Lauf der Dinge" führt, wenn man sich nicht energisch und von vielen Seiten - in- und außerhalb Südtirols - dagegen stellt, unweigerlich immer weiter in Richtung eines neu aufflackernden Konflikts, wobei - wie schon andere Male gesagt - diesmal wohl nicht unbedingt der Konflikt zwischen Minderheit und Staat, sondern vielmehr zwischen Volksgruppen im Vordergrund stünde: in der Tendenz also eher in Richtung Nordirland, Zypern oder Libanon als (wie in den 60er Jahren) in Richtung Baskenland. Natürlich liegt in solchen Vergleichen eine Dramatisierung - die aber eher in der Quantität als in der Qualität der sich abzeichnenden Tendenz liegen dürfte.

Gesamtsüdtiroler gesucht!

Was kann man der Krise des "Paket"-Konkordats entgegenhalten, wo sind Alternativen zu suchen?

Unserer Meinung nach vor allem dort, wo Gemeinsamkeit - gemeinsame Anliegen, Hoffnungen, Zeichen, Ziele usw. - für alle Menschen in Südtirol zu suchen oder zu stiften sind. Wir setzen der Theorie und Praxis der Volksgruppen-Entzweiung den Versuch entgegen, eine gemeinsame Zukunft für "ungeteilte Gesamt-Südtiroler" (so haben wir uns in der Polemik gegen die Option 1981 genannt) zu entwerfen: die Verschiedenheit der Sprache und Kulturtradition hat auch in der Vergangenheit der gerade in diesem Jahr oft beschworenen "tirolischen Nation" keinen Abbruch getan!

Unsere Hoffnung und unsere Arbeit suchen gemeinsame Ziele und vereinigende Anliegen jenseits des quälenden und stets neu aufgewärmten Ethnozentrismus' und Volkstumskampfes: die neuen großen und im wesentlichen europäischen Überlebensbewegungen für Umwelt, Frieden, ein neues Verhältnis zur Dritten Welt bieten neue gemeinsame Nenner.

Doch wissen wir, daß wir uns dadurch auch der Südtirol-Problematik nicht entziehen können und wollen. Deswegen suchen wir neue Ansatzpunkte auch für unsere Arbeit am Projekt für eine andere als die bisher vorgezeichnete Zukunft für Südtirol. Die Knoten "Selbstsein/anderswerden", "Personenrecht/Gruppenschutz", "Autonomie/Demokratie", denen wir uns dieser ersten Europa Werkstatt widmen wollen, scheinen uns fruchtbare Ausgangspunkte.

Dabei wissen wir sehr wohl, daß ein neues und besseres Autonomieprojekt für Südtirol als Antwort auf die Krise der bisherigen Konkordats- und Paket-Regelung nicht vor allem beim Parlament oder ähnlichen Gremien anzumelden und einzureichen ist, sondern zu allererst bei der Bevölkerung dieses Landes und den demokratisch gesinnten Freunden des Landes und seiner Bewohner.

Wenn wir vor allem nach einer neuen "Magna Charta" des Zusammenlebens streben, dann deshalb, weil nur ein vereinheitlichendes, gemeinsames, großes und starkes Ziel - ohne kleinliche Tabus - das quer durch die Sprachgruppen Hoffnung und Mitarbeit weckt, aus dem Weg in die Sackgasse noch rechtzeitig herausführen kann.

pro dialog