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Zum Selbstverständnis der Südtiroler

1.7.1968, die brücke, Juni/Juli 1968
1. Die geschichtliche Tradition. Im durchschnittlichen Südtiroler Volksbewußtsein scheint die historische Tradition eine ziemlich große Rolle zu spielen; das Geschichtsbewußtsein ist bei uns wahrscheinlich höher als anderswo (es wurde als notwendiges Element Selbstbehauptung gegenüber der Entnationalisierungsgefahr besonders hochgezüchtet).

Aber es handelt sich um Geschichtsbewußtsein in ganz bestimmter Projektion, die der gegenwärtig herrschenden Gesellschaftsform bequem scheint. Diese einseitige Geschichtsbewältigung hat z.B. dazu geführt, daß bestimmte Epochen und Ereignisse hochgespielt werden (Andreas Hofer, Episoden aus dem ersten Weltkrieg) während andere durchaus vergessen oder überlagert scheinen (Bauernkriege, Trentiner-Frage vor 1918, die nationalsozialistische Zeit in Südtirol). Als Ergebnis bildete sich ein Bewußtsein heraus, das den Südtirolern eine nun bereits kollaudierte Märtyrer-Rolle zuweist, die nicht nur dazu führt, immer bei anderen die Schuld zu suchen, sondern die auch zu einem eher niederen Selbstvertrauen gelangen läßt (das man durch ausländische - deutsch, österreichische und schweizerische - "Entwicklungshilfe" sogar noch bestätigt).

Ferner würde ich auch den hohen Wert der Konvention und des Überlieferten im allgemeinen auf ein erstarrtes Geschichtsbewußtsein zurückführen (gewisse Erscheinungen des heimatlichen Folklore, insbesondere die Volkstanzgruppen und das Schützenwesen etwa, festigen diesen Eindruck). Das hat nun schon zu einer bodenständigen Tiroler Mythologie geführt, die gewissen Phänomenen einen symbolischen und über jede Diskussion erhabenen Wert verleiht (z.B. die "Tiroler Freiheit", der Mythos des Bergbauern, usw.). Dadurch wird wiederum die akritische Haltung einer Gesellschaft bestärkt, die dazu neigt, solche Konventionen und Mythen ungeprüft zu übernehmen und zu überliefern.

2. Die Autorität

Aus einem derart verstandenen Geschichtsbewußtsein und aus der Verteidigungshaltung gegenüber Italien mag sich die Autoritätsgläubigkeit der Südtiroler (besonders der eigenen tirolischen Obrigkeit gegenüber, seit 1918) leichter erklären lassen. Unsere Gesellschaft scheint sich in ihrer starken Abhängigkeit und Gebundenheit gegenüber der "Herrschaft" wohlzufühlen; sie hat sich auf einem ideologischen Kissen zur Ruhe des Gehorsams gebettet (vgl. das Herr-Knecht und das Herrschaft-Dienstboten Verhältnis im allgemeinen, die Stellung zur politischen Obrigkeit, zur geistlichen, usw.). Dieser Glaube führt soweit, daß man blindlinks bei den Regierenden guten Glauben voraussetzt: diese Überzeugung und das sichere Bewußtsein, daß man selber unzuständig, die Autorität aber zweifellos kompetent sei, nimmt jeden Willen zur Kontrolle und zum Widerspruch den Herrschenden gegenüber. Deshalb fehlt im allgemeinen in der Südtiroler Gesellschaft eine dialektische Spannung zur Obrigkeit, wodurch diese ungestört und unkontrolliert herrschen kann (selbst wenn es die "feindliche", d.h. staatliche und somit italienische Obrigkeit ist, außer in den Fällen, in denen sich der Nationalismus direkt bedroht fühlt).

Es ist klar, daß eine solche Haltung gegenüber der Obrigkeit zu einer beinahe wehrlosen Manipulierbarkeit führt: das kollektive Verhalten wird fast ohne jede Wirkung oder Widerspruch von seiten der Herrschenden her bestimmt, die nach Belieben Impulse und Überzeugungen vermitteln können (siehe z.B. den Südtiroler Nationalismus, der hier nicht näher untersucht werden soll).

3. Werte und Scheinwerte

Es ist verständlich, daß unter solchen Umständen jene Werte in der Südtiroler Gesellschaft großgeschrieben werden, die der Obrigkeit bequem ins Konzept passen. Ordnung, Ruhe, Gehorsam, Fleiß, Hochschätzung des Alten und Überkommenen, usw. Wenn man näher hinsieht, bemerkt man, daß es sich eigentlich nur um scheinbare Werte oder zumindest um "sekundäre" Werte handelt, die nur in Abhängigkeit von primären Werten überhaupt eine Bedeutung haben können. Da aber die Obrigkeit nicht wünscht, daß jemand von "unten" bei der Festsetzung primärer Werte mitwirkt, fördert man die Pflege derartiger "abhängiger" (d.h. von anderen Werten bedingter) Werteigenschaften und umgibt sie mit einem sakralen Hauch, indem man sie zu "urtirolerischen Tugenden" stempelt und ihnen eine bewahrende Funktion gegen den Feind zuweist (unter Umständen trägt auch die Kirche dazu bei, den Sakralcharakter solcher Werte zu unterstreichen): Auch der Nationalismus oder allgemeiner das Nationale gehören heute in Südtirol zu diesen Scheinwerten, die ohne jede Fragestellung nach ihrem eigentlichen Sinn gepflegt und verherrlicht werden.

Das gesamte System der "Werte" oder Tugenden, in denen sich die gegenwärtige Südtiroler Gesellschaft gefällt und die man in ihr erzeugt hat, bildet die Ausstattung, mit denen die meisten Südtiroler die laufenden Ereignisse beurteilen. Dabei hat sich im heimischen Wertsystem schon ein starker "Stallgeruch" entwickelt, der eine allfällige Kontrolle sich neu anbietender Werte leicht macht: was gleicht oder ähnlich riecht, ist gut; was anders riecht, ist schlecht oder kann zumindest schädlich sein, weswegen man besser die Finger davon lasse.

4. Isolierung von der Geschichte

Bei näherem Hinsehen zeigt sich auch, daß die Südtiroler Werte häufig einen Absolutheitsanspruch erheben, der sie gegen jede geschichtliche Relativität immun macht (Gehorsam bleibt Gehorsam, "Anständigkeit" bleibt Anständigkeit, mag da passieren was will.) Und tatsächlich zeichnet sich die Tiroler Geschichte (nach den Bauernkriegen) dadurch aus, daß sie sich in ihrem Gang wesentlich außerhalb der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung bewegte. Ihre Werte sind somit entweder außergeschichtlich oder geschichtlich retardiert. Früher war dies wohl mehr historisch und geographisch begründet: die Werte der französischen Revolution, des Nationalismus, des Liberalismus, des Sozialismus (um nur einige der "geschichtlichen" Werte zu nennen) drangen nicht oder nur verspätet nach Tirol. Heute sind für Südtirol die politischen und völkischen Verhältnisse dafür verantwortlich, daß der Anschluß an die Ereignisse und "Werte" unserer Zeit (z.B. "Dritte Welt", Emanzipation der Volksschichten, Demokratie und echte Mitbeteiligung der Gesellschaft an der Macht, moderne Literatur, Kunst, usw.) nicht oder eben nur sehr verspätet stattfindet.

Diese Isolierung Tirols (und heute Südtirols) hat zur Folge, daß die Geschichte wie durch ein Sieb, nur mit großer Langsamkeit (und gegen bedeutende Widerstände) in die Gesellschaft eindringt: die Taktik dabei ist, daß dieses Sieb meistens "der Feind" hält und somit geschichtliche Werte meist vom Feind vermittelt werden und deshalb auf Ablehnung stoßen. Beispiele können die französisch-bayrischen Heere von 1809, die Trentiner Irredentisten, die vertriebenen Protestanten, usw. für die Vergangenheit und Italien für die Gegenwart liefern.

Diese Unfähigkeit der Südtiroler Gesellschaft (vielfach aber für Gesamt-Tirol gültig), in sich oder aus sich Keime der Erneuerung zu finden, wird manchmal abrupt gebrochen: gewisse Erfahrungen, die heute selbst in Südtirol unvermeidlich sind, stellen einen schockartigen Kontakt zur Geschichte her, der dann meistens verfälscht ist, weil der Südtiroler ihn wehrlos über sich ergehen läßt. Illustrierte, Fernsehen, Film, Militärdienst, Arbeit im Ausland, usw. stellen solche Kontakte mit der "Geschichte" (aber wie man sieht, mit einer verfälschten Geschichte) dar. Die Haltlosigkeit vieler Südtiroler ihnen gegenüber rührt daher, daß sie eben unfähig sind, eigene Werturteile zu fällen. Der bereits erwähnte "Stallgeruch" auf Grund der konventionell kollaudierten Werte liefert keine zuverlässigen Kriterien; Sekundärwerte erweisen sich als ungenügend (sie führen im besten Fall zur Vogel-Strauß-Politik) und die Obrigkeit kann in solchen Momenten keine Richtlinien erteilen, da sie in keiner Form zur Stelle ist. Kritik wurde nicht erlernt. Bleibt die fassungslose Kapitulation. Vielleicht versucht man "von oben" auch deshalb, die Südtiroler und Südtirol von der Geschichte weiterhin isoliert zu halten, weil man weiß, daß sie zur Begegnung nicht gerüstet wurden und man ihnen in weiser Fürsorge den totalen Zusammenbruch ersparen möchte.

5. Geschichtliche Hypotheken

In besonderer Weise lasten ferner zwei geschichtliche Hypotheken auf dem Selbstverständnis der Südtiroler. In erster Linie natürlich die gewaltsame Annexion an Italien, die gegen den Willen des Volkes durchgeführt wurde. Die Komplexe und negativen Erfahrungen, die sich daraus ergaben (und die hier nicht im einzelnen dargestellt werden können), verkrampften seit damals das Selbst- und Weltverständnis der Tiroler südlich des Brenners. Die Angst vor den anderen, vor Assimilierung, vor Majorisierung im eigenen Haus, usw., die Trennung vom "Mutterkulturraum" (Zelger) und die plötzliche Hilflosigkeit und Schwäche, die Unfähigkeit, aus eigener Kraft einen auch inhaltlich entsprechenden Widerstand leisten zu können und vieles mehr haben dazu geführt, daß seit 1918 jedes Übel im Südtiroler Bewußtsein schlechthin mit dem Hinweis auf das Unrecht von damals erklärt und entschuldigt wird, wobei man es eben wiederum mit Differenzierungen nicht so genau nimmt. Es ist bekannt, daß der Faschismus diese Tendenz indirekt durch sein brutales Vorgehen und seine zahlreichen Überbleibsel auch in der demokratischen Ordnung reichlich gefördert hat. Aus dieser Haltung heraus ist verständlich, daß der deutsche Defensivnationalismus der Südtiroler sehr bald das Feld behauptete (und auch nicht allein defensiv blieb) und seit dort eben die nationalen Werte den Ton angeben und die völkische Gegenüberstellung weitgehend jede andere und oft tiefere Problematik verdrängt und überlagert. Wer aus dieser Freund-Feind-Haltung den Nutzen zieht, ist bekannt: alle jene, die mit dem Hinweis auf den äußeren Feind jede innere Diskussion der Verhältnisse und der Machtpositionen erledigen. Ebenso dürfte es bekannt sein, daß die ausschließliche Vorrangstellung, die man einer Problematik zuweist, notwendig zu Verkrampfungen und somit zu Fehlurteilen und -Haltungen führt.

Die zweite schwere historische Hypothek, die auf der Südtiroler Gesellschaft lastet, sehe ich in der nationalsozialistischen Periode. Die in diesem Beitrag analysierten Züge der Südtiroler Gesellschaft lassen vielleicht leichter verstehen, warum gewisse Züge der Nazi-Ideologie trotz des katholischen Abwehr-Bazillus tiefer hängen blieben, als man glauben konnte (vgl. die ähnliche Lage in Nordtirol und Bayern). Die unkritische und unpolitische Haltung der Gesellschaft, der Autoritätsglaube, die Unfähigkeit zu einem geschichtlichen stichhaltigen Urteil usw. waren und sind günstiger Nährboden für faschistoide Verhaltensweise. Daß aber in Südtirol niemals ein Reinigungsprozeß (ich meine damit nicht nur personelle Säuberungen, die ebenfalls häufig ausblieben, sondern die geistige "Entnazifizierung") vollzogen wurde, wirkt sich besonders schwerwiegend aus, weil die Gefährlichkeit all jener "tirolistischen" Elemente, die zum Nazismus führten, nie aufgezeigt und entlarvt wurde und somit weiterhin - manchmal latent, manchmal ganz offen - besteht. Wahrscheinlich dürfte die gerne gespielte Märtyrer-Rolle an dem Ausbleiben dieser Reinigung schuld sein (wie es sich auch in Österreich mehrfach zeigte).

6. Eine unpolitische Gesellschaft

Die bisher erwähnten Züge machen die nun folgende Behauptung verständlicher, daß nämlich die Südtiroler Gesellschaft weithin unpolitisch sei. Ich versuchte bereits zu zeigen, daß die Regierten dank des blinden Vertrauens in die Obrigkeit gar kein Interesse haben mitzubestimmen, wer sie regieren soll und auf welche Weise. Durch ständiges Vorschieben des nationalen Problems beugt eine schlaue und ihrer Handlungsweise wohl bewußte Oberschicht jeder Politisierung der Bevölkerung vor, damit im Volk nur ja kein politisches Bewußtsein erwache, durch das es plötzliche Lust verspüren könnte, anders oder von anderen beherrscht zu werden oder gar selber ein Wort mitzureden. Natürlich dient dann die unpolitische Passivität des Volkes den Herrschenden, ihren Herrschanspruch zu legitimieren: handelt es sich doch um ein "notwendiges Übel", das immer wieder von sich verkündet, daß es ohne reale oder auch nur hypothetische Alternativen dastehe und deshalb auch schmerzloser ertragen werden kann. Der geduldige Konsens, den trotz eines gewissen Unwillens das Volk bei Wahlen immer wieder liefert, mag diese Behauptung stützen, nicht entkräften. Denn es ist doch nicht zu zweifeln, daß die wenigen an einer Politisierung interessierten Südtiroler sofort auf volkstumskämpferische Geleise abgeschoben werden.

7. Kultur als Popanz

Die Kultur scheint auf den ersten Blick im Südtiroler Selbstverständnis eine eminente Rolle zu spielen. Wenn man aber trotz der dicken Staubwolke aller volkstumstragenden Kulturproduzenten und -Konsumenten näher hinsieht, so entdeckt man daß Kultur in den seltensten Fällen als Mittel zur echten Persönlichkeits- und Gemeinschaftsbildung dient und somit kaum je wirkliche Reifung in der Gesellschaft vorantreibt. Vielmehr versteht das gut gelenkte kollektive Südtiroler Bewußtsein die Kultur (natürlich muß sie sehr "deutsch" sein) in erster Linie als Waffe im völkischen Existenzkampf, wodurch sie natürlich wiederum jeder kritischen Spannkraft verlustig geht, denn eine Waffe muß ja vor allem "gegen" den anderen ausgerichtet sein, ohne sich dabei den Luxus zu leisten, etwas im eigenen Lager in Frage zu stellen. Als Waffe aber ist die bei uns gängige Kultur ungeeignet: sie ist unscharf geworden, ihre Munition stammt vorwiegend aus Restbeständen vergangener Zeiten. Somit ist nicht einmal eine vitale "Anti-Haltung" möglich.

8. Wirtschafts- und Sozialfragen im Selbstverständnis

Bezeichnenderweise sind wirtschaftliche und soziale Fragen von der Bildfläche des Südtiroler Selbstverständnisses fast gänzlich abwesend. Ein un- oder außergeschichtliches Selbstbewußtsein hat das kulturelle und geistige Gewicht dieser Sektoren nicht verarbeitet, sodaß man ihnen bestenfalls Hilfsaufgaben im Volkstumskampf zuweist, seit man sie nicht mehr einfach ignorieren kann. Dabei ist die seltsame Antinomie zwischen Wirtschaft und Nationalismus bemerkenswert, die eingehend zu untersuchen der Mühe wert wäre: eine bestimmte Dosis von Nationalismus tut gut und ist notwendig, um von anderen Problemen ablenken zu können (soziale Besserstellung, Diskussion der Besitzverhältnisse, radikale Reformen, usw.). Andererseits hat sich eine Überbetonung des Nationalen als unwirtschaftlich erwiesen, denn sogar für einen "heimattreuen" Südtiroler Unternehmer scheint es doch zuviel verlangt, anstatt billiger italienischer Arbeitskräfte kostspieligere Stammesgenossen zu beschäftigen, wie die Partei möchte. Aber selbst diese Antinomie hat ihre bewahrende Funktion im System: die Spannung etwa zwischen Dietl und Benedikter (minor) auf einer Seite oder Riz und Raffeiner auf der anderen, ist eine Spannung zwischen Nationalismus und Kapitalismus, die zwar normalerweise zusammenarbeiten, in Grenzfällen aber verschiedene Interessen haben können. Beide sind sich aber einig, wenn es darum geht, soziale qualitative Veränderungen zu vermeiden und gar nicht zur Diskussion zu stellen. Soziale Probleme werden möglichst auf wirtschaftliche Dimension gebracht (typisches Beispiel der Kult des Fremdenverkehrs), die Bildung eines Klassenbewußtseins wird wirksam verhindert (auch die Industrien dürfen gewisse Ausmaße nicht überschreiten, sonst würde ihre Arbeiterschaft gefährlich und unkontrollierbar) und gefährliche Elemente werden automatisch durch den Zwang zur Auswanderung ausgestoßen. Die industriefeindliche Haltung der Südtiroler Gesellschaft ist wohl nicht allein auf ein nationales Trauma zurückzuführen, sondern wurde auch geschickt ausgenützt, um qualitative Veränderungen und soziale Spannungen zu vermeiden.

9. Die Kirche

Ein weiteres Element, mit dem ein kritisches Selbstverständnis in Südtirol zu rechnen hat, ist die Rolle der Kirche (nicht als Gemeinschaft, sondern als Institution verstanden, wie sie sich fälschlicherweise selbst darzubieten pflegte und häufig noch pflegt). Wie auch anderswo, ist die Kirche in Südtirol ein bedeutender Machtfaktor: sie verfügt über eigene Macht (nicht nur im geistigen Sinn, durch den Einfluß auf die Gläubigen, sondern auch im weltlichen Sinn: man denke an die ihr eigenen Machtmittel wie KVW, "Caritas", Verbände und Vereine, usw.) und verbündet sich traditionell mit den Mächtigen. Dieses Bündnis kann direkte Formen annehmen, indem die Kirche die Mächtigen im Lande theologisch, personell (durch Stützung gewisser Leute und Kreise) und auch direkt politisch (man denke an den Hirtenbrief über den Sozialismus) garantiert. Die Formen sind ähnlich wie überall: Vertreter der Amtskirche z.B.sind bei allen offiziellen Anlässen zu finden und vermitteln dem Volk die Illusion, ihre Anwesenheit biete eine gewisse Gewähr und zugleich liefern sie den Mächtigen bequeme Dekoration für ihre Feste. Daß die Hilfeleistung gegenseitig ist, dürfte dabei wohl allen klar sein. Schützenfeste mit Festmesse und Fahnen in der Kirche, Heldenehrungen, Werbung für Vorzugsstimmen bei Wahlen, politische Einflußnahme in kirchlichen Verbänden und umgekehrt, reichliche Förderung dieser Verbände aus öfffentlichen Mittel, sind nur einige der gewöhnlichsten Erscheinungen auf diesem Gebiet. Man kann sagen (und die Erfahrung bestätigt es unmittelbar), daß die Kontrolle ebenfalls gegenseitig ist und man aufeinander Druck ausübt. In den besten Fällen hat sich diese gegenseitige Stütze auf Nicht-Angriffspakte beschränkt (z.B. Partei und Bischof): von da bis zur nachkonzilären Freiheit ist es noch weit.

10. Versuch einer Gesamtschau

Will man nun versuchen, aus den bis hier gesammelten Elementen eine übersichtliche Gesamtschau der Südtiroler Gesellschaft zu gewinnen, lassen sich einige klar erkennbare Züge feststellen.

Vor allem handelt es sich um eine stark kristallisierte und eher unbewegliche Gesellschaft, die selbst in ihren elastischen Erscheinungsformen (z.B. Hochschüler) in hohem Maße zähflüssig bleibt. Provinzialismus und mangelnder Sinn für größere Maßstäbe - alles in allem ein starker "Egozentrismus" - kennzeichnen die Südtiroler Gesellschaft. Ihre Struktur ist weitgehend monolithisch, also einförmig und einheitlich (völkisch, politisch, sozial, kulturell, religiös, usw.). Gegen störende Elemente reagiert sie in ihrer primitivsten Form durch Ächtung oder Ausstoßung, in verbesserter und rationellerer Form durch Integrierung, die zwar langsam, aber äußerst wirksam vor sich geht (man spannt etwa gefährliche Leute mit ins System ein, damit sie seine Vorteile verspüren und an Änderungen uninteressiert werden).

Aber nicht nur auf geistiger Ebene - die das ideologische Fundament liefert - zeigt sich die Gesellschaft in Südtirol stark homogen: auch äußerlich sorgt ein perfektionierter Apparat von Verbänden und Vereinen für geschickte Integrierung jeder eventuell gefährlichen Erschütterung. Der Satz des hl. Thomas über die Strukturen ("Non multiplicanda sunt entia ultra necessitatem" = man soll die Gebilde nicht mehr als notwendig vermehren), findet in Südtirol keine Anwendung, im Gegenteil. In jeder Sparte des gesellschaftlichen Lebens sorgen ein oder mehrere Vereine dafür, daß allfällige unmittelbare Initiativen oder Impulse abgetötet oder in erlaubte Bahnen gelenkt werden. Da außerdem durch Mit-Interessentschaft und teilweise durch geschickte Personalunionen in den leitenden Gremien der ganze Vereinswald mit den tragenden Machtstrukturen der politischen Ebene unmittelbar oder mittelbar verbunden ist, besteht wenig Gefahr, daß unkontrollierte Impulse oder Keime neuer Ideen unter das Volk kommen. Die selektive Funktion, die ich auf geistigem Gebiet dem "Stallgeruch" der Werte zugewiesen habe, üben auf praktischer Ebene die Vereinsstrukturen aus, die zugleich die Gewähr bieten, gefährliche Neuerer im schlimmsten Fall in ihre eigenen Reihen zu integrieren und somit unschädlich zu machen.

Dieses System garantiert außerdem eine sehr hohe Machtkonzentration in stets gleichen Händen, ist aber insofern primitiv, als es in Südtirol mehr als anderswo die Nahtstellen und Schwerpunkte bloßstellt und (bisher für unwahrscheinlich gehaltenen) Angriffen aussetzt.

11. Schlußfolgerungen

Ich ziehe aus dem hier gezeichneten und ebenfalls vereinfachten Bild einige Folgerungen: vor allem, daß es dringend notwendig ist, Bewegung hervorzurufen, auch wenn man nicht immer klar voraussehen kann, wozu die so erzeugte Bewegung führt. Warum man nicht einfach das bestehende System belassen kann? Vor allem, weil es nicht lebensfähig ist: auch ein noch so gut einbalsamierter Leichnam stellt keinen lebendigen Menschen dar und lebt die Geschichte seiner Zeit nicht mit. Ferner, weil sehr viele Werte in diesem System verlorengehen und die vitalen Kräfte in die Emigration getrieben werden. Und schließlich, weil sich andere und bessere Gesellschaften auch denken lassen, die vielleicht unserer Zeit besser angepaßt sind als diese.

Das bedeutet, daß man systematisch die Schwerpunkte ausmachen und angreifen muß, mag es sich dabei um die großen (staatlichen und provinziellen) allgemeinen Machtzentren oder um den Monolithismus in Partei, Kultur, öffentlichen Leben usw. handeln, mag es sich um die Beziehung zwischen den Volksgruppen oder die Wirtschafts- und Sozialfragen, um die weltliche Macht der Kirche oder die Studenten gehen, die in einer so unbeweglichen Gesellschaft die vorläufig stärkste Hoffnung auf Erneuerung darstellen.

Wenn solche Schwerpunkte nicht gesucht und gefunden oder falsch interpretiert werden, besteht die Gefahr, daß Südtirol noch einmal neben oder hinter die Geschichte seiner Zeit dahinlebt.
pro dialog