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Alexander Langer: Kossovo, Palästina - eine Reise

1.6.1991, Kommune, Frankfurt , Juni 1991
Am 30. April 1991 breche ich zu einer ungewöhnlichen Rundreise auf, die mich zuerst nach Kossovo, dann nach Israel und in die besetzten Palästinensergebiete führt. Was anfänglich wie ein rein zeitliches Zusammentreffen in einem sehr vollen Terminkalender aussehen mochte, enthüllte sich sehr bald als dichter thematischer Zusammenhang - eine Reise quer durch schwere Menschenrechtsverletzungen, durch ethnische Unvereinbarkeiten und Unversöhnlichkeiten, durch mutige Minderheiten, die auf fast hoffnungslosem Posten etwas dagegen zu tun versuchen.


Einmal mehr fühle ich mich - nach meiner Rückkehr - in meinem Verdacht bestätigt, daß es niemals einfache Antworten auf komplexe ethnische Problemstellungen gibt - und daß die Minderheiten, die für Zusammenleben eintreten, allemal einen besseren Anhaltspunkt liefern als alle Verfechter klarer und eindeutiger Grenzziehungen.

"Transnationale" Grüne in Belgrad

Die "Grünen mit Hauptquartier in Belgrad" - so nennen sie sich, weil sie sich nicht als Serben verstehen wollen, sondern als "transnationale und humanistische" Partei - um den bärtigen und prophetisch aussehenden 1968er Dragan Jovanovic haben mich eingeladen, an ihrer Friedenskarawane nach Kossovo teilzunehmen. Zum ersten Mal kommt aus der serbischen und jugoslawischen Hauptstadt eine Dialog-Initiative, die mit den seit der faktischen Aufhebung der Autonomierechte des Kossovo (1989) stark unterdrückten Albanern Gespräch und Gemeinsamkeiten suchen will. Ich soll dabei als europäischer Schutzschild auftreten - von mir eingeladene Teilnehmer aus Südtirol und Italien werden mit großer Freude und Herzlichkeit empfangen.
Als ich am Vorabend des Aufbruches der Karawane nach meinen Vorstellungen zu Kossovo befragt werde, und mich im wesentlichen dafür ausspreche, daß diese vorwiegend albanisch besiedelte "autonome Provinz" meines Erachtens durchaus den Status einer gleichberechtigten Republik, neben den schon bestehenden, verdienen würde und in Zukunft vielleicht eine balkanische Konföderation und ein vereintes Europa viele Probleme entzerren und besser lösen könnten, stimmt man nur dem zweiten Teil meiner Antwort zu. Branka Jovanovic und Dejan Popov zeigen sich besorgt und fürchten, ich könne Urteile verkünden, bevor ich mir überhaupt die Lage näher angesehen habe. "Du hast keine Ahnung, wie heilig im Bewußtsein der Serben der Boden von Kossovo ist. Unsere wichtigsten Gräber und Klöster, Schlachtplätze und Burgen liegen dort. Wer als Antwort auf den groß-serbischen Nationalismus das Spiel der Albaner mitmacht, die heute eine Republik und morgen Groß-Albanien wollen, muß wissen, daß das hier wahrscheinlich Krieg bedeutet... Wir müssen eine Vision entwickeln, die nicht in die Nationalstaatlichkeit von früher zurückfällt. Und wer die Menschenrechte der Kossovo-Albaner verteidigt, darf die Drangsalierung der serbischen Minderheit dort nicht übersehen." Aus der Diskussion mit dieser Gruppe in einem wienerisch-balkanisch anmutenden Restaurant spüre ich bald, daß der einstige jugoslawische Traum von einem pluri-nationalen Gemeinwesen nur noch in Minderheiten fortlebt - diese Belgrader Grünen stammen in ihren Wurzeln stark aus der 68er Bewegung, einige der Lehrmeister dieser jungen Menschen kamen aus dem Kreis um "Praxis". So isoliert sie sich gegenüber dem serbischen Nationalismus fühlen (der sich parallel durch den Nationalkommunisten Milosevic und den Nationalchauvinisten Draskovic äußert, denen die Grünen gleichermaßen fern stehen), so empfindlich reagieren sie auf die "westliche Einseitigkeit" in Sachen Kossovo, die ihrer Meinung nach weder die Fakten noch die Auswirkungen auf Serbien genügend ausgewogen berücksichtigt. Und da fällt dann das Wort "Palästina": "man müßte die serbischen Gesichtspunkte doch auch so stark berücksichtigen, wie man das mit Israel tut, wenn von den Palästinensern die Rede ist..." Einer der jüngeren Anwesenden kennt Israel näher und war eine Zeitlang dort, hat sogar etwas hebräisch gelernt. Und die älteren Grünen verstehen sich als "ehemalige Linke", die inzwischen von der links-rechts-Polarisierung nicht mehr allzuviel halten, aber ihre soziale und - wie sie sie nennen - humanistische und aufgeklärte Grundhaltung nicht über Bord werfen möchten. Unter den jugoslawischen Teilrepubliken sympathisieren sie mit dem armen (und relativ pro-serbischen) Montenegro, wo eine junge Garde von Reformern an der Macht sei, die aus dem gebirgigen, kaum industrialisierten Land eine Art "Öko-Republik" machen möchte und dafür in Europa Unterstützung sucht. Rückständigkeit als Chance, kommunistisches Erbe als genetische Neigung zu sozialverträglicher Wirtschaft und Politik - so stellt sich mir der Hintergrund dar. Auch sonst sind diese Grünen um konkrete und - wie sie es nennen - "moderne" Politik bemüht: so haben sie beispielsweise eine Aktion initiiert, die schließlich dazu geführt hat, daß in Jugoslawien rund 3000 Tschernobyl-Kinder Ferien machen und sich ein bißchen von ihrer verstrahlten Umgebung erholen konnten. Diese Grünen waren zudem die einzigen in Serbien, wahrscheinlich aber in ganz Jugoslawien, die gegen den Golfkrieg demonstriert haben - sie sind stolz darauf, das gehört mit zu ihrer Identität.

Friedenskarawane nach Kossovo

Die über 40 Teilnehmer/innen der Friedenskarawane (größtenteils in einem Autobus, teils mit PKW's) sind recht bunt gemischt: die "Belgrader Intellektuellen" um Prof.Zivotic, die eine und andere Feministin, eine Arbeiterin aus einem FIAT-verbundenen Werk, die sich als Modistin genügend hinzuverdient, daß sie auch politisch aktiv sein kann; Studenten, Angestellte... nicht wenige Frauen. Anfänglich ist man sich der Dramatik, der man entgegenfährt, wohl nicht so ganz bewußt - es schmerzt, daß beispielsweise die slowenischen Grünen, mit denen die Beziehungen recht kühl sind, der Initiative mißtrauisch gegenüberstehen und angedeutet haben sollen, "man werde den Ausländern wohl nur Parade-Albaner vorführen..." Der 1.Mai ist nur noch als verlängertes Wochenende wahrnehmbar. Und auf dem Weg nach Kossovo besucht man das serbische Kloster Studenitza. "Nach dem erzwungenen Rückzug der Serben vor den Türken, wurde dieses Kloster lange von Albanern erhalten - die Serben wohnten früher in Kossovo, erst durch die Türken wurden sie vertrieben, die Albaner kamen später", erzählt man uns. Warum sollte also Kossovo nicht ein Teil Serbiens bleiben, klingt aus dem Unterton.
Daß wir uns dann bald in Kossovo befinden, merken wir vor allem an der Beflaggung und an den Inschriften: neben Serbisch (das hier - zum Unterschied vom eigentlichen Serbien, wo kyrillische Buchstaben vorherrschen - meist lateinisch geschrieben wird), erscheint Albanisch, und neben der jugoslawischen und serbischen Flagge wehen
auch eine albanische und eine türkische. Wobei die Berücksichtigung der türkischen Minderheit wohl eher eine Relativierung der albanischen Priorität darstellt - so etwa, wie man in Israel gerne von den Drusen spricht, wenn man sich nicht allzusehr auf die Palästinenser konzentrieren möchte.
Schon bei der ersten Versammlung in Kosovska Mitrovica erhitzt sich die Atmosphäre. Im Revier wurden in den Monaten seit September 1990 rund 12.000 Bergleute entlassen - praktisch nur Albaner. Der erste Anlaß dazu war - nach Ansicht der Albaner (und sie dürften darin kaum irren) - der Solidaritätsstreik mit der kossovo-albanischen Parteiführung, die im Sommer 1990 die Ausrufung einer eigenen Republik und die klandestine Verabschiedung einer Verfassung durch das aufgelöste Parlament von Kossovo gutgeheißen hatte und dafür vor Gericht gestellt wurde. Wir treffen mit rund 150 Menschen im Saal einer Schule zusammen. Neugier, anfängliches Mißtrauen, Erwartung. Vorne sitzen Vertreter der Belgrader Grünen und der "albanischen Alternative", einer etwa sozialdemokratisch ausgerichteten Partei, die den Dialog befürwortet. Großen Respekt genießt im Saal der Schriftsteller Adem Demaqi, der nach 28jähriger Haft wegen "Separatismus" als "kossovo-albanischer Mandela" vorgestellt wird. Wir hören uns die Klagen der Leute über willkürliche, ethnisch-politisch motivierte Massen-Entlassungen, über Diskriminierungen der albanischen Schulkinder und Lehrer (die seit Monaten nicht bezahlt werden, weil sie nicht nach serbischen Programmen lehren), über das Verbot der freien albanischen Presse, über soziales Elend und Massen-Arbeitslosigkeit an. Nach und nach melden sich immer mehr Leute zu Wort. Umstritten ist der Wert des Dialogs mit den Serben: alle schätzen die Initiative der Belgrader Grünen hoch ein, viele meinen aber, sie komme zu spät, der Rubikon der totalen Unvereinbarkeit sei schon überschritten, es werde zu einer gewaltsamen Konfrontation kommen. Demaqi aber warnt davor und spricht sich für Demokratie und Verhandlungen aus, ebenso Sceszen Maliqi, der Wortführer der "albanischen Alternative". Meine Ausführungen über Autonomie-Erfahrungen und Europa werden mit großem Interesse aufgenommen - das Europäische Parlament genießt einiges Ansehen, weil es sich öfter für die Menschenrechte in Kossovo ausgesprochen hat. Die Belgrader Grünen zeigen sich beeindruckt, warnen aber vor vorschnellen Schlußfolgerungen.
Die erste Frucht dieser Versammlung kriegen wir wenig später zu spüren. In Pec hätten wir in Räumen des serbisch-orthodoxen Patriarchats übernachten sollen - offensichtlich hat man sich das inzwischen anders überlegt, und so müssen wir ins Hotel.

Ist's schon zu spät?

Zhur ist ein kleines Dorf, dicht an der Grenze zu Albanien, wo die Polizei mehrmals hart durchgegriffen und mehrere Jugendliche erschossen und verletzt hat. Seit Monaten wagt sich kein Polizist mehr hin, am Dorfeingang steht Material bereit, um Barrikaden zu errichten. Auch hier findet die Dialogversammlung in der Schule statt - vor dem Eingang erwarten uns rund 20 Dorfälteste, denen wir allen die Hände zur Begrüßung schütteln. Der Saal ist übervoll, auch durch die offenen Fenster hören noch weitere Dorfbewohner mit. 3-400 Leute haben sich versammelt.
Hier geht es um vieles hitziger zu, politische Proklamationen werden verlesen, in denen eine eigene Republik Kossovo im jugoslawischen Verbund als Minimalprogramm und die Bereitschaft verkündet wird, das Blut der besten Söhne dafür zu opfern. Doch bald gelingt es auch hier, vom puren Austausch von Positionen zum Dialog zu kommen - mit wieviel Belastungen wird sofort ersichtlich, als beispielsweise eine obksure Episode angeblicher Massenvergiftung albanischer Kinder durch serbische Behördern erzählt wird, und wir später im Gegenzug von Kossovo-Serben hören, das sei alles von den Albanern für die Weltöffentlichkeit selbst inszeniert worden, mit eigens bereitgestellten Krankenwagen und Fernsehkameras.
Auf der Seite der serbischen Minderheit in Kossovo sei man terrorisiert und brauche einen starken serbischen Staat als Rückendeckung, wie man aus den leidvollen Erfahrungen der Autonomie-Jahre 1974-1989 schmerzhaft erleben habe müssen, wird uns im serbischen Dorf Strpce geklagt. Schauergeschichten über mordende, vergewaltigende und brandstiftende Albaner, "die übrigens nie wirklich gegen die faschistische Okkupation gekämpft, sondern im Gegenteil mit ihr sympathisiert haben", werden von serbischen Altkommunisten zum Besten gegeben. Im Dorf Lipjan verhindert die Milosevic-Partei das schon angesagte Treffen mit Serben in der Dorfschule, man traut internationalen Delegationen und dem Dialog nicht. Sehr bewegend ist dagegen die Begegnung in einer albanisch-katholischen Kirche in Stuble, wo sich Leute aus der ganzen Umgebung samt Bischof eingefunden haben und zwar deutlich über Entrechtung klagen, aber nur im guten Zusammenleben eine Perspektive sehen können, weswegen sie unsere Friedenskarawane mit großer Sympathie und Feierlichkeit empfangen, was bei den Belgradern den Eindruck nicht verfehlt.
An der albanischen Universität in der Hauptstadt Pristine geht am letzten Tag unsere Karawane zu Ende. Hier haben sich die Intellektuellen versammelt und zählen systematisch die Verletzungen ihrer Rechte auf: von der Auflösung ihres Parlaments und ihrer Regierung zur Dezimierung des albanischen Personals im Gesundheitswesen, von Massenentlassungen und einem ungerechten Steuersystem zur Einstellung der Presse, von der Abschaffung albanischer Schulprogramme zur fingierten Vertretung Kossovos in der jugoslawischen Präsidentschaft... Das Menschenrechtskomitee um Adem Demaqi, der sich immer wieder als Schlüsselfigur erweist, ist inzwischen international zu einem Begriff geworden.
Von einer politischen Lösung redet man zwar und hofft auf demokratische Mittel, schätzt aber - kaum verwunderlich - die grüne Dialog-Initiative als eine positive, doch hoffnungslos minderheitliche Ausnahme in der serbischen Politik. Europa wird von allen herbeigesehnt, doch spürt man immer wieder, daß man eine Stärkung der Position der Kossovo-Albaner eher durch den Zerfall Jugoslawiens, die Schwächung Serbiens und letztlich die neue Entwicklung in Albanien erhofft, als durch irgendwelche Verhandlungen mit dem serbischen Nationalismus, der sich in allen Schattierungen von links nach rechts äußert. Von den Belgrader Medien hingegen kommt der Vorwurf, daß von jenseits der Grenze Hunderttausende neuer Albaner eingeschleust werden, um einen Verdrängungswettbewerb zu gewinnen, der auch dank ungemein hoher kossovo-albanischer Geburtenraten auf dem Schlachtfeld ethnischer Demographie erbittert ausgetragen wird. (Wir verlassen Kossovo und Jugoslawien am Tag nach den bisher blutigsten Zusammenstößen zwischen Serben und Kroaten, unsere Belgrader Freunde fürchten sich geradezu vor der Rückkehr in ihren Alltag - "diese Friedenskarawane wird uns noch sehr teuer zu stehen kommen", meinen sie.)

Je heiliger das Land, umso verbissener der Streit

Und gerade das demographische Wettrüsten mag die Brücke zu Israel und den Palästinensern schlagen, wo ich mit einer Delegation von 8 Parlamentariern aus 6 europäischen Ländern unterwegs bin. Zeitgleich mit dem Beginn der vierten Baker-(und ersten Bessmertnych-)Mission und unmittelbar vor einem Besuch des israelischen Außenministers David Levy bei der EG in Brüssel. Wir besuchen in Zusammenarbeit mit der UNRWA, dem UNO-Flüchtlingshilfswerk, zahlreiche palästinensische Flüchtlingslager im besetzten Westjordanland (sowohl nördlich, von Jerusalem nach Nablus, als südlich, Richtung Hebron) und im Gaza-Streifen, Krankenhäuser und Schulen, führen Gespräche mit repräsentativen Vertretern der Palästinenser in den besetzten Gebieten (Jerusalem inbegriffen) und der israelischen Parteien, wir treffen mit den westlichen Diplomaten und Journalisten in Jerusalem zusammen. Auf eigene Faust unternehme ich zudem Streifzüge in Richtung israelischer Friedenskräfte, europäischer Freiwilligenorganisationen (Kooperation mit den Palästinensern) und zum jüdischen Weltkongreß, der gerade im Hilton-Hotel in Jerusalem tagt.

Schlachtfeld Demographie: das offizielle Israel freut sich auf die sowjetischen Juden (die man weitsichtigerweise an der Auswanderung nach Europa oder in die USA hindert!) - etwa 150.000 seien schon angekommnen, weitere 450.000 würden erwartet. Parallele Freude herrscht über jeden der angeblich rund 25.000 Palästinenser, die angesichts der schwierigen Umstände jährlich das Land verlassen. Intifada und Golfkrieg haben ein übriges getan. Ökonomie und Entfaltungsmöglichkeiten der Palästinenser sind am Boden. Aus den Golfstaaten fließt wesentlich weniger Emigrantenlohn und politisch motivierte Finanzhilfe über die PLO kommt kaum mehr, und wer in Israels Landwirtschaft oder Dienstleistungsbranchen arbeitete, hat in vielen Fällen den Arbeitsplatz verloren. Wer kann schon eine Stelle behaupten, wenn man gegen Ausgangssperre, Polizeikontrollen (auf dem Weg zur Arbeit und erst recht, wenn man Waren liefert) und Verbote und Schikanen jeder Art anzukämpfen hat? "Die brüchige Kette palästinensischer Ökonomie enthält immer mindestens einige Glieder, die in israelischer Hand sind: das können Ersatzteile, behördliche Genehmigungen oder Kontrollen, Steuern oder Industrieprodukte sein..." erklären uns übereinstimmend UNRWA-Funktionäre und Ökonomen der (geschlossenen) Palästinenseruniversitäten.
Wenn man durchs Land fährt, fallen einem sofort - vor allem auf vielen der zahlreichen Hügel - die befestigten israelischen Siedlungen auf. Auch das ist eine Kette, nur sind die Glieder stärker: das Land wird unter Nutzung vielfältiger Rechtstitel in Anspruch genommen (laut Palästinenser-Angaben schon fast 60% des Westjordanlands und 30% im Gaza-Streifen) und in "jüdisches Land" verwandelt. Die Siedler brauchen Wohnungen, Zufahrtsstraßen, Arbeitsplätze und vor allem viel Wasser. Außerdem leben sie gefährdet, deshalb dürfen sie sich bewaffnen und von ihren Waffen Gebrauch machen - wer also bedrohlich bewaffnete Zivilisten als Teil des "normalen" israelischen Alltags wahrnimmt, kann annehmen, daß er es mit Siedlern zu tun hat. Oder mit "security"-Leuten. "Sicherheit" - dieser allgegenwärtige Traum/Wahn, der dazu führt, daß das Gesetz des Stärkeren ohne große Verbrämung angewandt wird, statt auf Sicherheit durch Integration, durch gute Nachbarschaft, durch Ausgleich zu setzen.

"Indianisierung" der Palästinenser

In den Lagern herrscht eine eiserne Faust, seit dem Golfkrieg - in dem die Palästinenser zweifellos mit Saddam Hussein sympathisiert haben und nun auch noch die Fehler ihrer Exil-Führung teuer bezahlen müssen. Israelische Patrouillen streifen demonstrativ durch die Gassen, Kollektivstrafen gehören zum harten Alltag (Schulschließungen, Zerstörungen von Häusern, Ausgangssperren, Barrikadierung der Lager gegen die Versuchung, Steine nach draußen zu werfen...), Kälte und Haß sind überall zu spüren. Wie muß die israelische Gesellschaft heute und morgen aussehen, wenn nun ein Großteil der männlichen und weiblichen Erwachsenen, denen man - auch auf wissenschaftlichen Kongressen oder künstlerischen Veranstaltungen - begegnet, über kurz oder lang in einer Besatzungsarmee gedient, Häuser durchsucht, Menschen festgenommen, vielleicht geschossen oder mit Waffen gedroht oder rüde verhört haben? Manche Soldatinnen und Soldaten, mit denen ich spreche, finden nichts besonderes daran - auch nicht, in Uniform (aber ohne Waffen) gruppenweise die heiligsten Moscheen Jerusalems zu betreten. Manche rechtfertigen sich mit dem Hinweis auf die arabische Umzingelung Israels oder auf das Grundsatzprogramm der PLO. Daß 1% der Palästinenser in Gefängnissen ist und rund ein Fünftel in den besetzten Gebieten als "Unruhestifter" mit einem besonderen grünen Ausweis gekennzeichnet sind, der verschärfte Kontrollen und höchst eingeschränkte Bewegungsfreiheit nach sich zieht, oder daß die Palästinenser für ein Gesundheits- und Sozialversicherungssystem mitbesteuert werden, von dem sie praktisch nichts haben, dringt nicht wirklich ins Bewußtsein der meisten Israelis, oder wird als Teil einer harten, aber unausweichlichen Realität verstanden, die einfach Krieg heißt.
"In dieser Region ist kein Platz für einen dritten Staat neben Israel und Jordanien, und deshalb können wir nicht mit der PLO verhandeln, denn was ihr Ziel ist, geht gegen unsere vitalen Interessen", erklärt uns Dan Tichon von der Likud-Partei.
So kann man verstehen, daß man von israelischer Seite soviel Zeit als möglich für sich nutzen und vollendete Tatsachen schaffen möchte, bevor womöglich die internationale Konstellation zu einem Frieden zwingt. Denn es geht um einen erbitterten Kampf um ein Land, das beiden Seiten heilig ist. Für Israels Juden heißt das Argument so: "die Araber können überall in 22 Staaten leben - für Juden gibt es nur diesen Fleck der Welt, von dem können wir also nichts preisgeben". Und so möchte man recht offensichtlich die Palästinenser mehr und mehr auf Reservate eingrenzen und möglichst hinausgrausen.

Der Abgrund zwischen den Völkern

Die zahlreichen und gewichtigen Palästinenser, mit denen wir sprechen können - darunter mehrere Mitglieder der Delegation, die mit Baker verhandelt -, zeigen sich äußerst flexibel. Man weiß (und sagt es deutlich), daß Israel als Realität anerkannt werden muß, und behauptet, daß dies auch die wichtigsten arabischen Staaten sofort tun würden, wenn zwischen Israel und den Palästinensern Frieden geschlossen wird. Der einzige Festpunkt ist, daß man nicht ohne die PLO verhandeln kann und will, doch über alles andere läßt sich reden. Bittere Enttäuschung klingt durch, wenn gefragt wird, was denn bisher die Mäßigung für Früchte gezeitigt habe. Und doch, es gibt keine Alternative, und wenn man die derzeit noch angesehenen Wortführer aus den besetzten Gebieten nicht allzusehr delegitimiert und im Regen stehen läßt, müßte sich ein Ausgleich schon finden lassen. Wenn man ihn nur wollte.

Aber die Kontakte zwischen der israelischen und palästinensischen Seite haben sich enorm verschlechtert, vor allem seit dem Massaker in der Al-Aqsa Moschee, im Oktober 1990. Man spürt es auch den israelischen Friedensgruppen an, daß da kaum noch Dialog zum Alltag gehört - man ist getrennt, ohne viel Kommunikation, beiderseits unglücklich und wenig hoffnungsvoll. Der israelischen Linken, von der Arbeiterpartei bis zu den Bürgerrechtsgruppen, traut man kaum die Stärke zu, die Situation wirklich zu ändern - der Likud-Block ist da plakativer, deutlicher, überzeugender. Und die neuen Einwanderer - meint man - werden ihn auch noch stützen, zumindest zu Anfang. Was soll sich also ändern? Eine gewisse Hoffnung besteht gegenüber jenen Likud-Vertretern (wie Außenminister Levy, oder die Bürgermeister von Tel Aviv und Herzlya), die sich mehr auf die orientalischen Juden aus den arabischen Ländern stützen und somit eher an eine regionale Integration Israels denken als an ein allzu US-amerikanisches oder europäisches Land im Nahen Osten.

Palästina, Kossovo

Wie soll im israelisch-palästinensischen Konflikt, wie soll in Kossovo (wie soll in Zypern, in Georgien, in Armenien... man könnte die Reihe lang fortsetzen) eine Lösung gefunden werden, wenn nicht zumindest bescheidene "Mauerspringer" Dialogfermente einbringen? "Verräter" bräuchte es - nicht Überläufer, aber Mutige, die aus der Blockade ausbrechen. "Das Denken in Blöcken blockiert das Denken" gilt nicht nur für militärische oder ideologische Konfrontationen - bei ethnischen Konflikten spürt man das noch viel mehr. Reine, ungemischte Lösungen gibt es wahrscheinlich nur auf dem Papier - und wo man es versucht hat, wie beispielsweise - durch Umsiedlung - zwischen Griechen und Türken zu Ende des Ersten Weltkriegs, blieben tiefe Gräben trotzdem bestehen.

Insofern mag es tröstlich und verpflichtend anmuten, wenn man spürt, wie stark die Erwartung gegebenüber Europa ist. Kein Tag, während der langen Kossovo-Palästina-Reise, ist vergangen, ohne mehrmals die Anrufung zu hören, daß "Europa helfen soll", daß "Europa schlichten könnte", daß "Europa ein gemeinsames Dach" oder zumindest beiden Seiten gleichermaßen Freund sein könnte - auch die israelische Linke und die Friedenskräfte vertraten diese Meinung. Nach dem Ende der USA-UdSSR-Polarisierung ist diese Erwartung noch ungemein angestiegen.

Ob eine mögliche friedenspolitische Dimension des europäischen Einigungsprozesses nicht übersehen oder sträflich vernachlässigt wird, wenn man nur für oder gegen den Binnenmarkt redet?
pro dialog