Autobiographie "Minima Personalia"
Warum geht Vater nie in die Kirche?
In Sterzing (950 Meter, 4000 Einwohner), wo ich in einer demokratischen und bürgerlichen Familie aufwachse, die zu Hause hochdeutsch spricht anstatt des Tiroler Dialekts, in einer völlig offenen und toleranten Atmosphäre, beunruhigt mich, daß mein Vater nie in die Kirche geht.
Eines Tages, ich nutze die Gelegenheit, daß ich Geburtstag habe, wage ich meine Mutter nach dem Warum zu fragen. Ich bin ein wenig schuldbewußt, so wie ich schuldbewußt bin, weil ich nicht Dialekt spreche. Vater ist den ganzen Tag im Krankenhaus (er war der einzige Chirurg im Umkreis) und dient Gott jeden Tag auf diese Weise. Der Kaplan kann dir bestätigen, daß das so gut ist.Errore. L'origine riferimento non è stata trovata.Später erklärt meine Mutter mir auch, daß Vater jüdischer Herkunft sei und daß es nicht so sehr darauf ankäme, was man glaubt, sondern wie man lebt. In jenen Jahren war sie im Gemeinderat als Unabhängige, gewählt auf der deutschen Liste der Südtiroler Volkspartei. Aber als das politische Klima sich verschlechtert und Antifaschisten auf der Liste nicht mehr gefragt sind, zieht sie sich bald zurück.
In meiner kleinen Stadt, die ich liebe, fühle ich eine gewisse Fremdheit, die mir den frühzeitigen Übergang nach Bozen, in die Mittelschule der Franziskaner, leichtmacht. Während der Woche pendle ich nach Bozen, wo die Schule ist (in Sterzing haben paradoxerweise nur die Italiener eine höhere Schule: Ein Viertel der Bevölkerung, aber die Kinder der Offiziere). Es ist undenkbar, eine Fahrkarte oder Auskunft auf deutsch zu verlangen. In der Stadt fühlt man sich geradezu in der Minderheit als Tiroler. In meinem Bus (die Linie 3 von Bozen) sind wir nur zwei deutschsprachige Kinder. Die Faschisten machen Demonstrationen wegen Ungarn und gegen Magnago (Magnago a morte Tod dem Magnago). Auch ich fühle mich bedroht und beginne, die Faszination des ethnischen Widerstands zu spüren.
Jeden Samstag lese ich die Kulturseite der Dolomiten, wo von den Höhepunkten der Südtiroler Geschichte berichtet wird, von den Übergriffen der Italiener, den nicht eingehaltenen Versprechungen des Staates und vom Leben unter dem Faschismus. Der Prozeß gegen die Jugendlichen von Pfunders (die zu Unrecht, glaube ich, angeklagt waren, nach einem Streit im Wirtshaus einen Beamten der Finanzpolizei umgebracht zu haben, und hart verurteilt wurden) bewegt und empört mich. Als ich eines Morgens bei Waidbruck (Ponte Gardena) vom Zug aus sehe, daß der Alluminiumduce in der Nacht in die Luft gejagt worden war, bin ich froh darüber. Fanfani versprach dann, dieses Reiterdenkmal des italienischen Genius, das Mussolini zu Pferd darstellte, wiederherzustellen. Aber es kam nie dazu.
Warum hassen wir die Italiener nicht?
Ich spüre, daß die Atmosphäre zu Hause anders ist als draußen. Das gilt auch für die zweite Hälfte der 50er Jahre, als die Atten-tate der Bewegung für die Selbstbestimmung und Freiheit der Südtiroler einsetzen. Ich kann inzwischen ganz gut italienisch. Meine Eltern legen Wert darauf, daß ich es in der Schule gut lerne, und hatten mich sogar in den italienischen Kindergarten geschickt. Zusammen mit meinen Brüdern machen wir aus den ethnisch-linguistischen Unterschieden ein Spiel: auf der Straße erraten wir, wer Deutscher und wer Italiener ist und machen die Probe, indem wir dementsprechend grüßen. Man kann sich kaum irren.
Nach den ersten Bombenattentaten merke ich einen gewissen Unterschied zwischen dem Ton meiner Mutter (die sich eher dem Anliegen der Tiroler verbunden fühlt) und dem meines Vaters (der eher besorgt ist wegen eines möglichen Auflebens neonazistischer Strömungen). Noch stärker wird der Unterschied zwischen den Tönen zu Hause und draußen. Ich werde ein bißchen unsicher, wenn ein italienisches Ciao, das wir zu Hause sagen, draußen wie Verrat oder Distanzierung klingt.
Ich frage meine Mutter: Warum hassen wir die Italiener nicht?er Anwalt, ein unbekannter Schmuggler und andere Leute. Und daß umgekehrt sie und ihre Eltern in der Stadt isoliert waren, weil sie gegen die Option für Hitlerdeutschland gestimmt hatten. Nicht alle Deutsche und nicht alle Italiener sind gut oder böse, man muß unterscheiden.
Fahnen
Ich will in der Welt herumreisen, und zum Glück erlauben es mir meine Eltern, auch wenn ich oft allein fahre: Zu Fuß in die Berge, in der Umgebung von Sterzing. Mit dem Rad bis zum Gardasee, ins Engadin, nach Nordtirol. Dann entdecke ich mit einem geschenkten Roller die Poebene, die Lombardei, die Toskana, Umbrien, die Denkmäler, von denen ich im Kunstunterricht gehört, die Orte, von denen ich gelesen habe. Später dann Europa. Mir gefallen die Jugendherbergen, wo ich Jugendliche aus anderen Ländern kennenlerne. Für mich ist es immer kompliziert, zu erklären, woher ich komme: Also bist du nun Italiener oder Deutscher? Von den Fahnen, die oft vor den Herbergen oder Zeltplätzen flattern, ist keine die meine. Was mir nicht besonders leid tut. Dafür kann ich mich mit meinem Deutsch und meinem Italienisch auf der ganzen Strecke zwischen Dänemark und Sizilien verständigen. (Noch etwas zu den Fahnen: zu Hause wurde nie die Tiroler Flagge gehißt, auch keine andere Fahne. Am Herz-Jesu-Fest schaute immer einer vorbei und schrieb auf, wer geflaggt hatte. Für die Südtiroler Volkspartei. Ein anderer machte das gleiche für die italienische Polizei.)
Weder Judäer noch Grieche
Das erste universale Ideal, das mich zu überzeugen und einzunehmen vermag, ist das christliche. Meine Eltern sind davon nicht begeistert, tun aber nichts dagegen. Ich lese, denke nach und bete. Ein Engagement, mit dem es mir sehr ernst ist. Ich versuche im ökumenischen Sinn, wie man damals sagte, zu arbeiten: für eine Überwindung der Konkurrenz zwischen katholischen Vereinen; für einen Dialog und ein besseres, gegenseitiges Sichkennenlernen mit den (wenigen) Protestanten in Bozen; für gemeinsame Veranstaltungen der deutschen und der italienischen Katholiken. Jeder Schritt ist etwas schwieriger als der vorige. Es sind die Jahre des Konzils, der großen Öffnungen und Hoffnungen. Es ist schön, sich als Glied einer universalen Gemeinschaft zu fühlen, ohne Unterschied zwischen Judäern und Griechen. Auch während der Studienzeit bleibe ich in der katholischen Studentenvereinigung Fuci.
Wie ich kein Kommunist wurde
Möglicherweise aus Schuldbewußtsein, möglicherweise aus christlicher, sozialer Empfindung oder Durst nach Gerechtigkeit interessiere ich mich sehr für die Armen und die soziale Frage. Zusammen mit anderen richte ich einen Dienst ein, um unbemittelten alten Leuten Holz zu bringen. Ärmeren Kindern gebe ich kostenlos Nachhilfeunterricht. Ich würde auch gerne wissen (und das Wissen weitergeben), wie Kommunisten sind. Und obgleich das Bild, das man sich bei uns vom Kommunismus macht, weniger mit Gewerkschaft und Widerstand zu tun hat und viel mehr damit, was man von Budapest oder Prag reden gehört hat, fasse ich mir ein Herz und gehe zu Anselmo Gouthier, dem Vorsitzenden der Jungkommunisten. Ich bitte um ein Interview für unsere Schülerzeitschrift Offenes Wort (Gouthier machte dann später Karriere in der Parteispitze und im Europaparlament). Wir sprechen italienisch, und ich bin stolz darauf, ein Interview in einer anderen Sprache führen zu können. Gouthier spricht von unverletzbaren Grenzen und sagt, wenn man die Brennergrenze in Frage stelle, käme auch die Oder-Neiße-Linie ins Wanken.
Ich versuche, herauszubekommen, was die Kommunisten tun, und erfahre, daß die Aktivisten Versammlungen abhalten. Für ein Interview, das mir in der Schule und bei den Franziskanern teuer zu stehen kommt, ist das sehr mager und enttäuschend. Hätte er mir mit einfachen Worten erklärt, daß die Welt sich nicht nur teilt wie ich das vielleicht sah in Deutsche und Italiener, Gläubige und Ungläubige, Gute und Böse, sondern auch in Klassen, und daß man das auch in der Südtiroler Wirklichkeit nachweisen könne, wer weiß was passiert wäre. So aber schien mir das Vincentiuswerk konkreter zu sein. Nur wenige Jahre später habe ich erfahren, daß in jenen Jahren in Bruneck (Brunico) einer aus dem Marxismus ein kritisches Instrument gemacht hat, um die Lage, in der er arbeitete, besser zu verstehen. Aber der hatte draußen studiert.
Eine gemischte Gruppe
Zusammen mit einigen Freunden beginne ich Mitte der 60er Jahre zu verstehen, daß eine gemischte Gruppe vielleicht der Schlüssel sein könne, um die Probleme Südtirols zu verstehen und anzugehen: Das Zusammenleben im Kleinen üben. Die Gruppe bildet sich, die meisten kommen von der katholischen Jugend, einige sind konfessionslos, Jungen und Mädchen mit der Muttersprache deutsch, italienisch und ladinisch. Wir beginnen uns regelmäßig zu treffen und zusammen die Geschichte unseres Landes zu studieren (und entdecken dabei, was die verschiedenen Sprachgruppen jeweils vertuschen oder verschweigen), um ein Bild zu bekommen, wie es werden könnte. Wir sind gegen die Bomben (inzwischen neonazistischer Herkunft, wobei die Geheimdienste mitmischen), wollen eine gerechte Regelung der Autonomie und eine Zukunft des Zusammenlebens auf Grund gegenseitiger Achtung und Kenntnis der anderen Sprache und Kultur. (Aber um von den italienischen Freunden nicht Alessandro gerufen zu werden, denen es damals natürlich schien, alles ins Italienische zu übersetzen, greife ich lieber zur Abkürzung Alex).
Wir bemühen uns, es so zu machen, daß die Kritik an den Deutschen von den Deutschen formuliert wird und an den Italienern von den Italienern und so weiter. Unsere Gruppe hat keinen Namen, tritt öffentlich nicht in Erscheinung, wird aber in kurzer Zeit zu einer Werkstatt für Ideen und Vorschläge und fühlt sich 1967 sogar soweit, eine Tagung mit 200 Teilnehmern zu veranstalten, einberufen von sechs jungen Südtirolern (die die Einladung unterzeichnet haben) und wohlwollend unterstützt von Umberto Segre in der Tageszeitung Il Giorno.
Wir lernen, daß wir Freunde auch außerhalb der Provinz brauchen und daß wir Beziehungen zur demokratischen Öffentlichkeit in Italien und Österreich herstellen müssen, wenn wir aus der Phase der Attentate in eine Phase der Demokratie und der Autonomie kommen wollen. Zu unserer bislang eher unpolitischen und keiner Partei verbundenen Gruppe tritt auch Lidia Menapace in Beziehung, damals christdemokratische Dezernentin für das Gesundheitswesen der Provinz, eine von den wenigen Personen italienischer Muttersprache, die von der Notwendigkeit einer mutigen Reform des Autonomiestatuts voll überzeugt sind. Zusammen mit Lidia mache ich im Herbst eine Goodwill-Tour nach Rom, Innsbruck und Wien. Unterstützt vom MIR (Internationaler Versöhnungsbund) halten wir Vorträge über die Südtirolfrage und bekommen Gelegenheit zur Begegnung mit bedeutenden Persönlichkeiten wie dem Kardinal König in Wien.
Unsere Ideale und unsere Praxis, die in keiner Hinsicht radikal oder volksfern waren, hätten die soziale und ideelle Basis abgeben können, um dem Autonomiepaket eine weitere Perspektive zu geben. Doch die herrschenden Kräfte (Democrazia italiana, Südtiroler Volkspartei) ziehen ein Abkommen vor, das ganz auf der Ebene diplomatischer Abmachungen bleibt und auf der gegenseitigen Abgrenzung der Volksgruppen beruht, die sich als Blöcke gegenüberstehen.
Südtiroler Dissidenten
Mitte der sechziger Jahre beginnt der Südtiroler, deutschsprachige Dissens sich freier zu äußern. Die Vereinigung Südtiroler Hochschülerschaft wird zum wichtigsten Ort, denn die Südtiroler Studenten sind, da es in Südtirol keine Universität gibt, mehrheitlich in Österreich und sonst überall verstreut: Innsbruck, Wien, Graz, Padua, Florenz, Mailand, Bologna, Salzburg, Rom, München, Zürich, Venedig.
Es ist die erste Südtiroler Massenorganisation, in der bis heute die Mehrheit nicht konformistisch eingestellt ist. Auch ich engagiere mich, stark durch die gemischte Gruppe hinter mir. Unsere wichtigsten Themen sind der Kampf für eine Demokratisierung und einen ideellen und politischen Pluralismus innerhalb der deutschen Sprachgruppe.
Die Studentenzeitschrift Skolast genügt uns nicht. Zusammen mit Siegfried Stuffer und Josef Schmid gründen wir 1967 die brücke. Nicht immer sind wir uns über alles einig: Als ich von der Notwendigkeit einer Neuen Linken(November 1967) und der pluriethnischen Organisation der Südtiroler Politik schreibe (1968), unterstreicht das Redaktionskollektiv, daß es sich nur um meine persönliche Ansicht handle. Zum Paket zeichnet sich aber eine gemeinsame Haltung ab: schnell verabschieden und darüber hinaus gehen.
Seit 1968 nimmt die brücke auch Artikel in italienischer Sprache auf, stellt aber 1969 ihr Erscheinen ein. Die Wege der Redakteure trennen sich: einige treten der Südtiroler Sozialdemokratischen Partei bei, andere der Kommunistischen Partei, wieder andere der außerparlamentarischen Linken. In unserer Literaturwerkstatt haben Norbert C. Kaser, Joseph Zoderer, Roland Kristanell und andere ihre Erstlinge veröffentlicht. Insgesamt hat die brücke gezeigt, daß ein selbständiger Weg der jungen Südtiroler Linken möglich ist.
Zu den solidarischen, immer bereitwilligen Gesprächspartnern gehörte der Rechtsanwalt Sandro Canestrini, ein Linker, der stets zu unterscheiden verstand zwischen Südtiroler Bombenlegern und dem Bazillus der Neonazis.
Florenz
Ohne große Überzeugung schreibe ich mich in der juristischen Fakultät ein. Sehr überzeugt bin ich aber davon, in Florenz zu studieren. Ich verbringe dort zwischen 1964 und 1967 eine sehr intensive Zeit, eine weniger intensive nach 1968. Ich bereue diese Entscheidung nie. Es sind die Jahre des Dialogs zwischen Marxisten und Christen. Ich lerne die vielfarbige italienische Linke kennen. Insbesondere entdecke ich ihre volkstümliche Komponente.
Ich begegne Giorgio La Pira, der mein Professor wird; Ernesto Balducci, der im cenacolo jede Woche eine Vorlesung hält über das Konzil. Ich bekomme Kontakt zu der Zeitschrift Il Ponte, herausgegeben von Enriques Agnoletti (der 1967 einen langen Artikel von mir über Südtirol veröffentlicht), zur Zeitschrift Testimonianze (die mich auch zu schreiben einlädt), zu Politica (idem). Ich mache die Bekanntschaft von Giorgio Spini, Paolo Frezza, Enzo Mazzi und Paolo Barile (der mein Doktorvater wird) und vielen anderen. Ich lerne die Vorzüge der italienischen Demokratie schätzen, sehe die Kommunisten aus der Nähe, verfolge aufmerksam, was im katholischen Dissens passiert, gehe zu Diskussionen, schließe Freundschaften.
Die tiefste Begegnung ist die mit Don Milani und seiner Schule in Barbiana. Zusammen mit einer alten, österreichisch-böhmischen Jüdin, Marianne Andre, übersetze ich sein Lettera ad una professoressa (Die Schülerschule, Wagenbach 1970), ins Deutsche. Was liegt näher, als auch Lehrer zu werden?
1968 in der Provinz
Weil ich stark lokal engagiert bin, verbringe ich mein viertes Studienjahr vorwiegend zu Hause in Südtirol. So kommt es, daß ich an der 68er Bewegung von der Peripherie aus teilnehme. Unsere Anti-Springer-Kampagne, heftig und entschlossen, richtet sich gegen das Monopol der Dolomiten und des Verlegers Ebner. In der brücke veröffentlichen wir Artikel über die Studentenbewegung (aber die Kontakte zu Trient sind dünn). Im Laufe meiner ersten Tätigkeit als Deutschlehrer, im italienischen Realgymnasium Bozen, besetzen wir ein paar Tage lang die Schule. Zu den Forderungen der Schüler gehört: sie wollen ebensogut deutsch lernen wie ihre Tiroler Altersgenossen italienisch.
Während eines Besuchs des christdemokratischen Unterrichtsministers Gui im Wahlkampf belagern wir das Bozner Rathaus mit einem großen Sit-in. Der Minister muß durch die Hintertüre hinaus. Im Frühjahr wähle ich PCI (wäre ich in Florenz gewe- sen, hätte ich PSIUP gewählt) und gebe die Vorzugsstimme dem deutschsprachigen Kandidaten. Es ist das erste Mal, daß ich wähle, und etwas Besseres ist nicht im Angebot. Im Sommer besuche ich mit Freunden Ostdeutschland und die Tschechoslowakei, wo ich die sowjetische Invasion und die ersten Tage der Besetzung erlebe (wir bleiben, solange es geht). Im Herbst arbeite ich, bezahlt vom CNR (eine Art italienische Forschungsgemeinschaft, A.d.Ü.), in Bonn an einer vergleichenden Untersuchung des Verfassungsrechts und lerne dort die Außerparlamentarische Opposition näher kennen.
Deutschland, Österreich
Meine literarische Bildung (von den Märchen zum Abenteuerroman, von den Klassikern zur zeitgenössischen Literatur) ist praktisch ganz deutschsprachig. Meine Studien, die Begegnungen und mein Umgang sind hingegen eher italienisch geprägt. So bleibt in mir ein großes Bedürfnis, die deutschsprachige Welt von innen besser kennenzulernen. Nach dem Abschluß meiner Studien in Florenz suche und finde ich Gelegenheiten, diese Bekanntschaft, die mich dann für immer begleiten wird, aus der Nähe zu machen. Ein Jahr in Bonn. Mein Arbeitsplatz ist die Bibliothek des Bundestags. An der Universität bin ich als Gasthörer eingeschrieben. Reisen in viele Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ab 1967 zahlreiche Artikel in Zeitungen und Zeitschriften dieser Länder. Neue Freundschaften und Briefwechsel. Bei einem zweiten, längeren Aufenthalt in Deutschland (vom Herbst 1973 bis zum Sommer 1975) Aufbau eines regelrechten politisch-sozialen Observatoriums (im Auftrag von Lotta Continua) für die Länder Mittel- und Nordeuropas. Zahlreiche Kontakte zu deutschen, österreichischen und eingewanderten Arbeitern, zu Gewerkschaftlern, zu Mitgliedern von Grüppchen und Gruppen, zu Intellektuellen.
Das Netzwerk der Beziehungen, des Austauschs, des Brückenschlags wird immer reicher, dichter und bunter. In einer Zeit, da man nördlich der Alpen mit neidvollem Interesse auf Italien blickt, sieht man mich als einen Experten für Italien: Bei den Vorträgen und Diskussionen, an denen ich in Berlin, Wien, Hamburg, Innsbruck, Bern, Frankfurt, Köln und Utrecht teilnehme, erzähle ich von den sozialen Kämpfen und Organisationen, von der besonderen Spontaneität und Autonomie der italienischen Arbeiterklasse; südlich der Alpen versuchen wir, zusammen mit anderen Genossen, Kenntnisse von der Realität des multinationalen europäischen Proletariats zu verbreiten.
Später kehren sich die Verhältnisse dann eine Zeitlang um: In Italien bricht die Lust aus, Deutschland, Österreich, die Grünen und die Bürgerinitiativen kennenzulernen. Meine Brücke führt in beide Richtungen, und ich bin froh, zur Zirkulation von Menschen und Ideen beitragen zu können. Ich spüre nie ein Gefühl der Unterlegenheit gegenüber den Deutschen aus den Mutterländern: Im Gegenteil, manchmal habe ich den Eindruck, daß man als Südtiroler bestimmte Seiten der deutschen Kultur besser zu schätzen weiß.
Der erste Südtiroler Streik
Der heiße Herbst von 1969 hat selbst in Südtirol Auswirkungen. Am 17. September ist Generalstreik der Metallarbeiter. Wir beschließen, ihn vor die Tore einer Südtiroler Fabrik zu bringen: Die Durst-Werke in Brixen (Bressanone). Ganz in der Früh sind wir dort, ein Dutzend Leute, vorwiegend deutschsprachig. Damit man uns glaubt, zeigen wir Die Dolomiten, die den Streik ankündigen. Sofort bilden sich kleine Grüppchen. Kaum jemand geht ins Werk. Eine Sekretärin von der Betriebsleitung schimpft und schreit uns an. Die Arbeiter aus dem Bus vom Tal gehn nicht durchs Tor. Als mit großem Karacho der herbeigerufene Personalchef ankommt, fährt er mit dem Auto einen Arbeiter an. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt: »Stellt euch vor, er hätte ihn schwer verletzt oder getötet der Gasser hat vier Kinder.«
Der Streik ist ein voller Erfolg. Wir machen zusammen mit den Arbeitern eine Versammlung in einer nahe gelegenen Wirtschaft. Man feiert uns und gibt uns einen aus. Wir sprechen von egalitären Forderungen und finden Zustimmung. Doch als wir auf einen Arbeiter stoßen, der in seinem Dorf Messner ist, und ihm Vorschläge machen für eine größere Gleichheit auch in der Kirche, ist er entschieden dagegen. Aber er gratuliert uns zum gelungenen Streik.
Indes werden die Unternehmer gewitzter. Um den Pendlern aus dem Sarntal oder Nonstal ein Flugblatt verteilen zu können, muß man dem Bus bis in die Täler hinein hinterherfahren.
Unterrichten
Mit großem Engagement und Leidenschaft gehe ich an meine Aufgabe als Lehrer. In zwei Perioden (19691972 und 19751978) nimmt mich die Schule völlig in Anspruch. Ich unterrichte Philosophie und Geschichte am deutschsprachigen Gymnasium in Bozen und Meran und an einem Realgymnasium in den römischen Außenbezirken. Mein Leben in der Schule ist nicht leicht und mit Strafversetzungen, mit Beurteilungen wie genügend und gut, und mit häufigen Unterdrückungsmaßnahmen von seiten der Schulleiter besät. Nie gibt es eine Bemerkung zu meiner Ausbildung, zur Qualität meines Unterrichts, oder einen Tadel wegen undisziplinierten Verhaltens. Was man mir ankreidet sind mein politisches Engagement und die Mißachtung der vorgegebenen Rollen. Das Verhältnis zu den Schülern aber ist dauerhaft und gibt Befriedigung.
Die Schulsituation in Südtirol und in Rom ist sehr unterschiedlich. In Bozen und Meran ist die Schule ein Ort, wo reales Wissen erworben wird, das entscheidend ist für die intellektuelle Entwicklung der Schüler (die zum größten Teil vom Land kommen, im Internat wohnen und die Schule sehr ernst nehmen). In Rom lebt man in politischen Gruppen, Demonstrationen, Versammlungen und Besetzungen. Aber auch so läuft eine entscheidende Phase in der Sozialisierung der Schüler über die Schule. Ich glaube in aller Unbescheidenheit, daß ein Großteil meiner Schüler bei mir etwas Interessantes und Wichtiges gelernt hat und sich gerne daran erinnert. Mit Vergnügen erinnere ich mich an die Solidarität und Zusammenarbeit mit Kollegen-Genossen in einer ganz ungewöhnlichen, römischen Sektion der Gewerkschaft.
Bei den Maultieren
Ich leiste meinen Militärdienst spät (ich bin schon 27), nachdem ich lange gehofft hatte, ihn vermeiden zu können (als Dritter mit zwei älteren Brüdern, die ihn schon abgeleistet hatten), und alle Alternativen studiert hatte (Verweigerung und Gefängnis; Dienst im Ausland auf Grund des Pedini-Gesetzes). Als ich einrücke, stelle ich mir die Kaserne als einen Ort des Klassenkampfes und der Wiederherstellung des Proletariats vor. Ich nehme mir vor, mich in diesem Sinne zu verhalten: Proletarier in Uniform. Ich war soeben mangels Beweisen von der Anklage der Verunglimpfung des Heeres freigesprochen worden. So komme ich in eine Strafkaserne der Gebirgsartillerie in Saluzzo, mit Maultieren, einer harten Disziplin und einer speziellen, offenen Überwachung meiner Person.
Es ist die Zeit der größten physischen Anstrengung meines Lebens. Ich befinde mich auf völlig gleichem Fuß mit Bauern und Arbeitern, nicht auf Grund einer eigenen Entscheidung, unter das Volk zu gehen, sondern weil ich ohne mein Zutun hierhergeschickt worden bin. Es ist mir eine große Befriedigung, daß sich ein guter Teil unserer Truppe wenige Tage nach meiner Entlassung (September 1973) vor der Kaserne zu einer Demonstration gegen den Staatsstreich von Pinochet zusammenfindet. Saluzzo schaut verwundert zu.
Lotta Continua
Ich stoße Ende 1970 zu Lotta Continua. Es ist das Ergebnis einer kollektiven Suche, denn in Bozen spüren wir zu mehreren das Bedürfnis, mit einer Realität in Verbindung zu treten, die größer ist als wir. Nach einer Sondierung des ganzen Panoramas von Gruppen und Organisationen und nachdem einige eine andere persönliche Entscheidung getroffen hatten (zum Beispiel für die Gruppe il manifesto), betrachten wir uns als Teil von Lotta Continua. Wahrscheinlich hat dieser Wunsch nach Zugehörigkeit auch etwas Regressives, und sicherlich spielt auch eine gute Portion Ideologie eine Rolle. Doch vor allem wollen wir direkt und aktiv teilnehmen an einem historischen Prozeß, den wir für vielversprechend, befreiend und revolutionär halten und der, das ist uns bewußt, seine Zentren anderswo hat, nicht in Südtirol. In einem gewissen Maß relativiert das die Probleme, mit denen wir uns bisher beschäftigt haben.
In Lotta Continua finden wir die Verherrlichung spontaner Momente, kämpferische Begeisterung ohne die Dogmen und die Tradition des offiziellen Marxismus, die Aufwertung von Figuren, die nicht aus den klassischen, roten Hochburgen kommen. Reggio Calabria Südtirol: der Kampf gegen den StaatErrore. L'origine riferimento non è stata trovata.Zum dritten Mal verlasse ich Südtirol, dieses Mal mit LC, und gehe im Anschluß an den Wehrdienst nach Deutschland. Zuvor hatte ich mich während der ersten Jahre nach meinem Beitritt hauptsächlich mit zurückgebliebenen Situationen (wie Bozen) und mit dem Organisieren der Proletarier in Uniform befaßt. In den folgenden Jahren widme ich mich nun dem Ausland und erwerbe Kenntnisse und Informationen zur internationalen Lage. Ab 1975 wieder in Rom, schreibe ich regelmäßig in der Tageszeitung mit dem roten Titel.
Ende 1976 nehme ich am Auflösungskongreß von LC in Rimini teil, wo die Organisation sich unter dem Druck der Feministinnen selbst auflöst. Einige führende Figuren wie Adriano Sofri ziehen sich vollständig zurück. Mir scheint, ich müsse, zusammen mit anderen Genossen (unter ihnen Paolo Brogi, Franco Travaglini, Enrico Deaglio, Clemente Manenti), meinen Beitrag für eine sanfte Landung leisten, um einen ruinösen und kopflosen Rückzug oder eine ebenso ruinöse und kopflose Radikalisierung der Genossen zu verhindern. Ich spüre, daß mich das mir entgegengebrachte Vertrauen in die Verantwortung nimmt. Ein bißchen ist das die Arbeit der Epigonen, und mehrmals versuche ich, mich ihr zu entziehen. Doch jedesmal ruft mich eine Ausnahmesituation zurück: die Bewegung von 1977, die Toten in Stammheim und der deutsche Herbst, die Entführung von Moro
Im Einsatz der Tageszeitung Lotta Continua für die von den Radikalen geforderten Volksentscheide (Sammlung von Unterschriften für das Referendum von 1977, Wahlkampf 1978) sehe ich ein nützliches Ziel und befürworte diese Linie energisch. Erst im Sommer 1978 glaube ich, mir einen schrittweisen Rückzug aus der Redaktion und den Resten der Organisation erlauben zu dürfen.
Südtirol erklären
Seit Jahrzehnten scheue ich keine Anstrengung und bemühe mich, Südtirol zu erklären, um die Aufmerksamkeit und die Unterstützung meiner demokratischen Freunde für die Sache der Autonomie und des friedlichen Zusammenlebens in meiner Heimat zu gewinnen. Unabhängig vom Bedürfnis, eine Isolierung und die schiefe Ebene des Revanchismus zu vermeiden, trägt mich die starke Überzeugung, daß die Lage und die Entwicklung in Südtirol eine Fülle von Lehren und Erfahrungen enthält, die von allgemeinerer Bedeutung sind, mehr als eine provinzielle Angelegenheit: Minderheit sein, ohne sich deswegen in Klagen und Nostalgie abzukapseln; die eigenen Besonderheiten pflegen, ohne deswegen in einem Ghetto oder im Rassismus zu enden; die Möglichkeiten eines pluri-kulturellen und pluri-ethnischen Zusammenlebens erproben; Teil einer ethnischen Bewegung sein, ohne den ethnischen Aspekt verabsolutieren zu wollen; für eine Kommunikation zwischen den verschiedenen Gemeinschaften arbeiten. Manchmal denke ich, daß viele Aspekte des künftigen Europa hier, in corpore vili, zum Nutzen aller erprobt und verifiziert werden können.
Eine Beerdigung
Im August 1978 stirbt der junge Südtiroler Dichter Norbert C. Kaser, dessen ersten Verse die brücke veröffentlicht hatte. Bei der Beerdigung dieses so bedeutsamen Dissidenten (den die Öffentlichkeit erst später besser schätzen- und kennenlernt) auf dem Friedhof in Bruneck sind wir viele. Leute, die vor zehn Jahren zusammen waren und nun in der Gewerkschaft, in den Oppositionsparteien, in der Schule arbeiten und viele politische Streuner. Das Schweigen auf dieser (nicht kirchlichen) Beerdigung und die Diaspora und Ohnmacht so vieler Energien, die in meinen Augen das Beste darstellen, was dieser Boden hervorgebracht hat, beeindrucken mich tief. Norbert C. Kaser ist an dieser Ohnmacht gestorben. Hier spüre ich, daß ich mich wieder aus der Nähe mit den Südtiroler Angelegenheiten befassen muß. Wenige Tage später veröffentliche ich in der Südtiroler Volkszeitung einen Vorschlag: Vereinen wir die Südtiroler Dissidenten, über die Sprachgruppen und Reste der politischen Gruppen hinweg, und stellen wir uns, auch bei den nächsten Wahlen für Provinz und Region, ohne Dogmatismus und Sektierertum, mit der Davidschleuder dem Giganten des Südtiroler Regimes. Noch denke ich nicht an eine wirkliche Rückkehr aus Rom. Die Person, von der ich meine, sie würde sehr gut die David-Liste führen können, ist eine Südtiroler Lehrerin, die sich früh hat pensionieren lassen und seit Jahren viele Initiativen ins Leben gerufen hat. Sie besitzt die einzigartige Fähigkeit, das authentische Erbe der Tiroler Volkskultur mit den sozialen Kämpfen und Wünschen nach Veränderung zu verbinden. Sie heißt Irmtraud Mair und will von einer Kandidatur nichts wissen. Der Vorschlag einer bunten Liste mit diesem Charakter stößt anfänglich vor allem auf Mißtrauen und Zurückhaltung. Offensichtlich ist es leichter, zusammen einen gemeinsamen Freund zu beweinen, als zusammen einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu beginnen.
Die Radikale Partei
Vom Wahlkampf zu den Volksentscheiden von 1977 rührt ein enges Verhältnis zu den Radikalen, ohne daß ich je ihrer Partei beigetreten wäre. Marco Pannella sieht 1978 in den Wahlen zum Parlament der Region Trient-Südtirol eine gute Gelegenheit, seinen Erfolg von Triest (im Juni 1978 gelingt es den Radikalen, bei den Gemeindewahlen in Triest Marco Pannella in den Gemeinderat zu wählen) zu wiederholen. Aber dieses Mal ist es nicht möglich, Kandidaten von außen zu holen, und so kommt es, daß die Radikalen in den letzten zwei Wochen auch ganz massiv die Liste Neue Linke-Nuova Sinistra unterstützen. Diese Liste ist das Ergebnis (nicht so wie erhofft, aber immer noch sehr wichtig) meines Vorschlags einer David-Liste: Multiethnisch, mit politisierten und nicht politisierten Leuten, die meist aus ganz verschiedenen Bereichen kommen und bereit sind, auf die Logik der Fahnen und Parteien zu verzichten. Es ist nicht ganz leicht, der etwas erdrückenden Umarmung durch die Radikalen zu widerstehen, und es kostet Mühe, der Parteienlogik (beispielsweise der Radikalen Partei und der Partei der Nicht-Radikalen) zu entgehen. Aber die Mühe lohnt. Und wenn man mich auch manchmal mißbräuchlich als besondere Blüte im Knopfloch der Radikalen präsentiert, reut es mich doch nie, eine Beziehung eingegangen zu sein, die auf Autonomie und Gegenseitigkeit beruht, wobei unsere Kraft und unsere Wurzeln stark genug sind, einseitigen Instrumentalisierungen zu widerstehen.
Parlamentarismus in der Provinz
Zweimal werde ich in den Regionalrat und in den Südtiroler Landtag gewählt: 1978 auf der Liste Neue Linke-Nuova Sinistra (1981 trete ich zurück auf Grund einer Sprachgruppen-Rotation) und 1983 auf der viel breiter angelegten Alternativen Liste für das andere Südtirol. Sie ist das Ergebnis der positiven Erfahrung und einer spürbaren Erweiterung der ersten Liste, und es gelingt, unsere Vertretung zu verdoppeln. Beide Male ist es für mich eine schwere Entscheidung, die Kandidatur anzunehmen und mein Leben zu verändern. Aber die Lage ist so besonders, so beschränkt und gezeichnet durch die spezifische Problematik des ethnischen Konflikts, daß es mir gerechtfertigt erscheint, mich im parlamentarischen Rahmen zu engagieren. Ich weiß sehr wohl, wie schnell man sich da verändert und welches Risiko die Menschen eingehen, die dieses Instrument benutzen.
Die Fragen einer Koalitionsbildung stellen sich nicht. Gegenüber 33 Kollegen des Südtiroler Miniparlaments kann man nur Zeuge sein für jenes andere Südtirol, zu dessen Sprecher man gewählt wurde und für das man arbeitet. Aber dieser ausschließliche Gebrauch des Parlaments als Tribüne hat seine Grenze, und in dieser Begrenzung wird es mir zunehmend eng.
Pazifismus
Ich fühle mich zutiefst als Pazifist (jemand der Frieden macht, zumindest in seinen Intentionen). So nehme ich mit einer gewissen Häufigkeit an Begegnungen und Friedensinitiativen teil. Oft habe ich den Eindruck, daß es sich um einen abstrakten Frieden handelt und um einen Pazifismus, der keine Instrumente besitzt, um seine Ziele zu erreichen. Als der Krieg um die Falklandinseln ausbricht, denke ich: Wenn das ein deutsch-italienischer Konflikt wäre, wüßte ich, was ich zu tun hätte, um etwas zu einem konkreten Frieden beizutragen; nämlich die Bildung einer gemischten Gruppe, Brückenbau, Verrat an der eigenen Seite, aber ohne Überläufer zu werden; ein Verräter, der sich mit den Verrätern der anderen Seite zusammenschließt. Die Logik der Blöcke blockiert die Logik würde diese Erfahrung gerne noch fruchtbarer machen.
Option 1981: Der ethnische Käfig
Seit Ende 1978 sehe ich, wie sich in Südtirol das abzeichnet, was wir die ethnische Festschreibung nennen. Damit ein System, das auf der klaren Trennung der ethnischen Blöcke beruht, reibungslos und ohne Grauzonen funktionieren kann, muß eine Art ethnischer Kataster angelegt werden, dem niemand entgehen kann. Am Anfang glauben nur wenige, daß es soweit kommt, und messen den bereits in diesem Sinn erlassenen Vorschriften, wohlversehen mit Siegel und Unterschrift der italienischen Republik, kaum Bedeutung zu. Daher warnen wir vor der neuen Option und vor einer Aufzwingung ethnischer Käfige. Mir scheint es absolut klar zu sein, daß es sich nach dem Mussolini-Hitler-Pakt und nach der Option von 1939 um das schlimmste Attentat auf die Demokratie und um die böseste Vergiftung der Beziehungen zwischen den Volksgruppen handelt. Ich sehe fast physisch die Beschleunigung der ethnischen Trennungsprozesse und der Konfrontation, die durch die sogenannte Sprachgruppenerfassung ermutigt und lückenlos möglich gemacht werden wird (mit obligatorischer, namentlicher Einschreibung in eine der drei offiziellen Sprachgruppen). Ich finde diese große Operation in Richtung legaler Rassismus beängstigend, und ebenso, daß sie von den sogenannten demokratischen Kräften in Italien (von allen, von den Kommunisten bis zu den Liberalen) und in Österreich geduldet, bagatellisiert und unterstützt wird. Ich verstehe soviel Blindheit nicht, soviel Achtlosigkeit, soviel Verwechslung von legitimen Bedürfnissen nach Autonomie und Minderheitenschutz mit gefährlichen ethnischen Frontbildungen.
Mir scheint, man könne fast mit Händen greifen, wie ein analoger Prozeß eingeleitet wird, wie er in Deutschland zum Bau der Mauer zwischen den beiden Teilen geführt hat: Wo zuerst nur eine Demarkationslinie war, erkennbar bloß auf Karten oder durch ein paar Pfähle, verläuft jetzt der Todesstreifen und ein wirklicher eiserner Vorhang, der uns von ihnen trennt. Auch die Schritte, die zu dieser Trennung führten, waren jeder für sich genommen nicht so erschreckend.
Im Sommer 1981 vervielfacht sich der von uns angeregte Widerstand und erreicht die Zentrale der Parteien und ein paar Zeitungen. Doch nach drei Tagen parlamentarischer Debatte siegt im Oktober die Staatsräson, und die Parteien des vorgeblichen Verfassungsbogens unterstützen einhellig die von der Volkspartei gewünschte Lösung: divide et impera, jedem sein ethnisches Gehege mit den entsprechenden Feldhütern.
Zusammen mit ein paar tausend Unverzagten verweigere ich die Unterschrift auf dem Schein, auf dem ich meine legale Zugehörigkeit zur deutschen, italienischen oder ladinischen Sprachgruppe hätte angeben müssen. Meine Mutter, die noch lebt und bereits die Option von 1939 verweigert hatte, unterschreibt ebenfalls nicht. Wie viele andere ethnische Verweigerer setze ich mich bald präzisen Strafmaßnahmen aus: Meine bereits bewilligte Versetzung vom Gymnasium in Rom an das deutschsprachige Gymnasium in Bozen wird auf Druck der Magnago-Partei vom Staatssekretär Falcucci rückgängig gemacht, denn es kann nicht als Tiroler deutscher Muttersprache anerkannt werden, wer sich dem obligatorischen ethnischen Ruf von 1981 verweigert hat. Ich denke an meinen Vater, der seit Jahren tot ist und der 1938, bei seiner Entlassung auf Grund der Rassengesetze, vom Provinzobmann der faschistischen Ärztekammer den bürokratischen Bescheid erhalten hatte, daß es unmöglich sei, ihn anderweitig zu verwenden, auch nicht im Roten Kreuz oder ähnlichem, aber daß er natürlich bei den vorgesetzten Stellen Einspruch erheben könne, wenn er glaube, ihm sei Unrecht geschehen.
Ich hätte gerne in Tiroler Tracht geredet
Im August 1985 werde ich von den Grünen in Passau eingeladen, auf einer antinazistischen Kundgebung zu sprechen, die sich gegen ein Treffen von Neonazis richtet, bei dem auch der stellvertretende Landeskommandant der Südtiroler Schützen auftreten soll. Ich gehe gerne, obwohl ich schon seit einiger Zeit die verschlissene Liturgie des Antifaschismus nicht mehr leiden kann. In der Tat hat die antinazistische Kundgebung einige veraltete Züge, doch bin ich mit einem Gefühl der Dankbarkeit dabei. Plötzlich sehe ich einen Autobus ankommen, der voll ist mit Südtirolern in ihrer Tracht. Bestürzt sehe ich sie aussteigen und zum Zug antreten. Ich verlange sofort das Mikrophon und spreche von unserer Tribüne: »Laßt euch nicht täuschen, schon einmal haben die Nazis und die Faschisten unser Volk ins Unglück gestürzt, haltet euch fern von denen, ein anständiger Tiroler hat mit denen nichts zu tun. Alle erkennen mich sofort. Einige zögern, andere machen sich über mich lustig. Dann lassen die Anführer den Zug losmarschieren. Das war die Gelegenheit, bei der ich gerne in Tiroler Tracht geredet hätte.
Der grüne Prophet
Im Frühjahr 1985 stehen die Gemeindewahlen bevor, und in vielen Städten und Regionen wird es grüne Listen geben. Im Feuilleton einer römischen Tageszeitung werde ich als grüner Prophet bezeichnet. Ich reise durch Italien, um zur grünen Aussaat beizutragen. Ich versuche es mit Argumenten und Zielen, die wenig wahlkampfmäßig und eher nachdenklich sind. Auch in diesem Fall habe ich mich nicht als Kandidat angeboten. Im Gegenteil, mehr denn je fühle ich mich als Gefangener einer durch eine Kombination von Umständen erzeugten Beschleunigung. Seit Mitte der 70er Jahre beobachte und verfolge ich hauptsächlich in Deutschland grüne Bewegungen und Initiativen. Nach und nach fange ich an, darüber zu schreiben und auch als Mittelsmann zu wirken für das, was nördlich und südlich der Alpen passiert. Ab 1982 trage ich dazu bei, daß dieser Austausch dichter und organischer wird. Das Zentrum ist Trient, auch dank der Arbeit von Marco und Sandro Boato. 1984 werde ich eingeladen, am 8. Dezember in Florenz das Einleitungsreferat zu halten auf der ersten Versammlung der italienischen Komitees und Gruppen, die die Aufstellung grüner Listen befürworten. Man sieht mich als Wegbereiter und Ausgleich, und ich übernehme diese Funktion gern, mit der Absicht, das Steuer möglichst rasch anderen zu überlassen. Ich wäre sehr besorgt, wenn sich die Sache hinzöge, was meine Lage als Gefangener verschärfen würde. Es ist schwer, die Leute davon zu überzeugen, daß Bozen nicht die grüne Lokomotive Italiens ist. Offensichtlich ist die von den Medien erfundene Realität überzeugender als die Wirklichkeit. Da bleibt nichts übrig als die Ärmel hochzukrempeln, um nicht zu sehr zu enttäuschen.
Begegnungen
Früher habe ich vielleicht am meisten aus Büchern gelernt. Neuerdings, scheint mir, lerne ich mehr von Begegnungen (doch war es vielleicht auch früher so und die Erinnerung trügt). Zum größten Glück, das das Schicksal mir gewährt hat, gehören die Beziehungen zu den vielen unterschiedlichen Menschen, denen ich begegnet bin und die ich kennenlernen konnte. Zum größten Teil handelt es sich nicht um Begegnungen, die mir kraft eines Amtes oder einer Rolle geschenkt wurden (er ist der Sohn von; er verkehrt im Hause von; er hat diese Stellung bei), sondern um solche, die ich mir sozusagen in eigener Regie errungen und aufgebaut habe. Darum kenne ich bis heute Leute mit sehr unterschiedlicher Anlage, Position und Bildung, und mein Austausch und meine Freundschaften bewegen sich auf verschiedenen Ebenen und in viele Richtungen. So aufregend es sein mag, Leute wie Kreisky, Pertini, Gheddafi, Ingrao, Sofri oder Illich aus der Nähe kennenzulernen, so bewegend und innerlich bereichernd ist es doch auch, Freundschaften zu pflegen, Gefühle und Gedanken auszutauschen mit Menschen, die nie in einer Zeitung schreiben werden oder nie den eigenen Namen gedruckt sehen. Ich kann sagen, daß ich die Salons und die Leute, die mich wegen irgendeiner Funktion suchen, drastisch fliehe. Darüber aber erlebe ich Begegnungen, die schon vertrauten und die neuen, als den größten Reichtum, den das Leben mir schenkt. Ich möchte weiterhin ohne Nebenabsichten die anderen Menschen schätzen und von ihnen geschätzt werden. Vielleicht ist es auch deshalb gut, sich fernzuhalten von jeder Ausübung der Macht.
Übersetzung aus dem Italienischen von Peter Kammerer