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Jugoslavien-Seminar der Grünen im Europäischen Parlament

17.5.1991, Langer Archiv
Auf Einladung der Grünen im Europäischen Parlament fand am 17.5.1991 in Straßburg, in den Räumen des E.P., ein Jugoslawien-Seminar unter dem Vorsitz von Alexander Langer, Gérard Monnier Besombes und Paolo Bergamaschi statt.

Unter den Teilnehmern waren Vertretungen der "Grünen Sloweniens", der "Grünen Partei mit Hauptsitz in Belgrad", der "Grünen Aktion" von Zagreb (Kroatien), der "Grünen Aktion" von Split (Kroatien), des italienischen Kulturkreises "La Battana" von Fiume/Rijeka (Kroatien) und Koper/Capodistria (Slowenien), sowie der Grünen im E.P. (deutsche, niederländischen, französische, italienische und belgische Teilnehmer/innen), der Europäischen Koordination der Grünen, der Grünen Alternative aus Österreich und der Grünen Italiens und Frankreichs.
Die Vertretungen der "albanischen Alternative" und des "Menschenrechtskomitees" aus dem Kossovo, die an der Vorbereitung mitgewirkt hatten, konnten nicht rechtzeitig eintreffen. Leider hat sich die französische Visa-Regelung überhaupt sehr hinderlich für diese Initiative im E.P. ausgewirkt und einigen Personen den Zugang nach Straßburg verwehrt.

Die Teilnehmer/innen haben nicht in allen Punkten eine volle Einigung erzielt - insbesondere bezüglich der Art des Umbaues des politischen Systems Jugoslawiens - doch hat sich das Seminar dennoch als sehr fruchtbar erwiesen und wurde von allen Beteiligten als wichtiger Ausgangspunkt auch für weitere Initiativen empfunden, welche die aktive und solidarische Mitbeteiligung der europäischen Grünen am Suchen nach friedlichen und demokratischen Lösungen für die Krise Jugoslawiens zum Ausdruck bringen sollen. Die Jugoslawien-Resolution des Europäischen Parlaments vom 16.5.1991, die nahezu einstimmig verabschiedet wurde und auch dank des konstruktiven Engagements der Grünen im E.P. zustandekam, wurde von allen Teilnehmern aus Jugoslawien insgesamt als positiv gewürdigt, obwohl es zu einzelnen Punkten von verschiedenen Seiten auch Vorbehalte oder Abänderungen geben könnte.

Inhaltlich ist das Jugoslawien-Seminar zu folgenden Ergebnissen gekommen, die hier mit dem Einverständnis aller Beteiligten festgehalten werden:

Die sozialistische Bundesrepublik Jugoslawien befindet sich in einer tiefen Krise, die zum Teil aus dem Zerfall des kommunistischen Systems und des von Tito geschaffenen Jugoslawien herrührt, zum Teil aber auch aus älteren, in der Geschichte verankerten Gründen. Die Krise könnte sich als langwierig erweisen und trägt die Gefahr gewaltsamer Brüche in sich, und ist im Zusammenhang mit den besonders schwierigen Krisen einiger pluri-nationaler Staaten zu sehen (Jugoslawien, UdSSR, Tschechoslowakei..). Die derzeitige jugoslawische Föderation hat nach innen ihre Glaubwürdigkeit und ihren Zusammenhalt eingebüßt. Man steht vor einem gefährlichen Ausbruch nationalistischer Spannungen, die auch von denen nicht kontrollierbar sind, die sie anheizen und für sich auszunützen suchen. Der tiefsitzende Haß zwischen Völkern und Volksgruppen löst große Sorge aus, und es muß absolut vermieden werden, daß man von außen noch Öl ins Feuer gießt. Mit Beunruhigung ist festzustellen, daß auch im jugoslawischen Alltag - nicht nur in der Politik - ethnische Distanzen und Unversöhnlichkeiten rasch zunehmen. Es besteht die Gefahr einer richtiggehenden "Libanisierung", mit dem Risiko, daß immer mehr Menschen ihr Heil in der Bewaffnung suchen - in den Köpfen und in der materiellen Realität. All dies verschärft sich durch die schwere ökonomische und soziale Krise noch um vieles mehr, Armut und Ungleichheit zwischen den Regionen nehmen noch weiter zu.

In dieser Situation laufen alle Beteiligten Gefahr, sich überhaupt nur noch mit den ethnischen, nationalen und politischen Aspekten der Krise zu befassen und alles andere zu vernachlässigen - darunter auch sämtliche dringende ökologische, soziale und demokratische Anliegen. Auch der gegenwärtige Zustand des Informationswesens in manchen Regionen Jugoslawiens, wo die Medien praktisch nur den nationalen Konflikt aufbauschen und anheizen, gibt Anlaß zur Sorge.

Die Schwäche der Demokratie und das Fehlen einer festverwurzelten demokratischen Kultur, sowie zahlreiche Situationen, in denen es an Demokratie und Menschenrechten überhaupt mangelt (besonders schwerwiegend die Unterdrückung im Kossovo), machen das Suchen nach einem Ausweg noch schwieriger.

Verschiedene und auch gegensätzliche Antworten auf diese Krise werden vorgeschlagen: von der Forderung nach Souveränität und Unabhängigkeit einerseits bis zu Versuchen, Jugoslawien mit Gewalt weiterhin zusammenzuhalten.

Natürlich steht es den Völkern Jugoslawiens zu, sich für die beste Lösung zu entscheiden, da die einfache Fortschreibung eines ungewissen "status quo" jedenfalls unmöglich erscheint. Vielleicht kann eine Lösung gefunden werden, die dazu führt, daß die Gründe und die Art des Zusammenhalts neu bestimmt werden müssen, und im Konsensverfahren bestimmt werden muß, wie starke und wie geartete Bindungen es zwischen allen derzeitigen Teilen und Völkern Jugoslawiens geben soll - jedenfalls muß dies ohne Rückgriff auf Gewalt und ohne Hegemonie geschehen. Vielmehr wird es dazu eine friedliche und demokratische Neuverhandlung brauchen, ohne jegliches "a-priori" über Einheit oder Trennung, und mit Rücksicht auch auf das internationale Gleichgewicht; man wird sich dabei um einen Ausgleich zwischen Volksgruppenrechten der verschiedenen Nationalitäten und den Menschen- und Bürgerrechten der Personen bemühen müssen. Diesbezüglich kann man auf Punkt 8 der vom Europäischen Parlament am 16.5.1991 verabschiedeten Resolution Bezug nehmen, wo es heißt: "alle Teilrepubliken Jugoslawiens und die autonomen Provinzen haben das Recht, in friedlicher und demokratischer Weise über ihre Zukunft zu entscheiden, und zwar auf der Grundlage der anerkannten internationalen und inneren Grenzen".

Doch um diesbezüglich Fortschritte machen zu können, muß der Konflikt zuallererst entmilitarisiert werden: die bewaffnete Drohung, die von offiziellen und nichtoffiziellen Streitkräften und von vielen Zivilisten ausgeht, muß der Abrüstung weichen und es dürfen keine Waffen vom Ausland nach Jugoslawien gelangen.

Der simple Rückfall in die Nationalstaatlichkeit der Vergangenheit wäre da keine befriedigende Lösung, und würde viele der anstehenden Probleme ja auch nicht wirklich lösen, insbesondere weil die Volksgruppen in vielen Fällen verstreut und in denselben Siedlungsgebieten vermischt leben. Doch die Fortschreibung der gegenwärtigen Föderation kann nicht bloß deshalb anempfohlen werden, weil die internationale Staatengemeinschaft damit leichter umzugehen weiß. Und erst recht unannehmbar wäre jeder Versuch, ethnische Homogeneität zu erzwingen - womöglich durch Umsiedlung oder gesteuerte Ein- oder Auswanderung.

Die gegenwärtigen internationalen und internen Grenzen anzuerkennen und beizubehalten, ist jedenfalls eine notwendige Mindestgarantie gegen noch größere Erschütterungen.

Selbstbestimmung und Selbstregierung können sich also nicht bloß auf die einmalige Entscheidung fürs Zusammenbleiben oder für die Trennung verkürzen lassen, sondern haben sich durch demokratische, soziale, kulturelle, ökologische ... Inhalte auszuweisen. In jedem Fall muß in jeglicher Neuordnung volle Rechtsgleichheit und Teilhabe am zivilen, politischen und kulturellen Leben für alle Minderheiten gewährleistet werden, was durch Einführung von Autonomie und Dezentralisierung auch innerhalb der verschiedenen Republiken und autonomen Provinzen erleichtert werden könnte. Staatliche Ordnung darf nicht in ethnische Selbstorganisation oder ethnischen Selbstschutz ausarten, sondern muß vielmehr einen Rahmen der Rechtssicherheit und Bürgerrechte für alle darin lebenden Bürger schaffen, ohne nationalistische Überspitzungen.

Wesentlich erscheint auch die Förderung einer Kultur und einer Politik des Zusammenlebens und des zivilen Dialogs, und wer sich heute in Jugoslawien darum bemüht - und seien es noch so kleine und minderheitliche Gruppen - verdient Unterstützung und Ermutigung.

Auf dieser Grundlage wollen die europäischen Grünen dazu beitragen, den Dialog und die Verhandlungen für die Reform und das Zusammenleben in Jugoslawien wiederzueröffnen, wobei sie sich bewußt sind, daß die Situation äußerst vielschichtig ist und keine Vereinfachungen zulässig wären. Es gibt heute keine vereinheitlichende Vision, doch macht es immerhin Hoffnung, daß sich alle Völker Jugoslawiens auf die gemeinsame Zugehörigkeit zu Europa berufen.

Die Grünen wollen somit alle Ansätze zum Dialog und zur Demokratisierung stützen, insbesondere auch in der zivilen Gesellschaft, im Bereich der Information und der Kultur, und den freien Informationsaustausch fördern. Sie sprechen sich für Ausbau und Vertiefung des Austausches und der Kooperation mit allen Völkern Jugoslawiens aus, sowohl im gesellschaftlichen wie im staatlichen Bereich. Sie sprechen sich auch für Wirtschaftskooperation und Wirtschaftshilfe aus, wenn schwere Menschenrechtsverletzungen eingestellt werden, und schlagen vor, daß solche Kooperation auch bilateral zwischen Regionen und Republiken stattfinden kann, wobei insbesondere das regionale Ungleichgewicht auf solidarische Weise überwunden werden soll. Die Grünen sind ferner für regionale und inter-regionale Kooperation, auch über die Grenzen hinweg, wie sie beispielsweise im Adriatischen Raum und in der "Alpe Adria" schon stattfinden und ausgebaut werden könnten.

Die Grünen sprechen sich dafür aus, daß Europa - im besonderen die Europäische Gemeinschaft (und Österreich) - seine Vermittlung anbietet - wenn gewünscht - um den Dialog zwischen allen Beteiligten Jugoslawiens wieder in Gang zu bringen oder auch einen Tisch für diesen Dialog anzubieten, und hoffen, daß die von der KSZE ins Auge gefaßte Konfliktvermeidungs-Struktur bald ins Leben gerufen werden und ihre Tätigkeit womöglich mit dem jugoslawischen Konflikt beginnen kann.

Und schließlich sprechen sich die Grünen dafür aus, daß auf der Grundlage der Ergebnisse des Straßburger Seminars, wie sie hier zusammengefaßt sind, eine permanente Dialog-Struktur ins Leben gerufen werde, deren erstes Treffen in der Form eines "runden Tisches" auf jugoslawischem Gebiet stattfinden könnte, auf Initiative der grünen Fraktion im Europäischen Parlament und der europäischen Koordination der Grünen.

Straßburg, 17.5.1991

Die Vertreter der "slowenischen Grünen" und der "Grünen mit Sitz in Belgrad" möchten dem vorliegenden Text noch ihre jeweiligen Vorschläge beilegen (Resolutionsentwurf der Slowenen, Analyse mit einigen Vorschlägen aus Belgrad), und alle Teilnehmer/innen einigen sich zudem darauf, die Resolution des E.P. vom 16.5.1991 (nahezu einstimmig verabschiedet) beizulegen.

Teilnehmerliste: Leo Seserko (Grüne Sloweniens, Abg.z.slow.Parl.), Nikola Viskovic (Grüne Aktion Split, Abg.z.kroat.Parl.), Vladimir Lay (Grüne Aktion, Zagreb), Dragan Jovanovic, Dejan Popov, Goran Kostic (Grüne Partei mit Sitz in Belgrad), Maurizio Tremul, Ezio Giuricin ("La Battana", Koper/Capodistria und Rijeka/Fiume), Paolo Bergamaschi (europ. Koordination der Grünen), Franjo Schruiff, Karl Kaser (Grüne Alternative und Grüner Klub, Österreich), Vittorio Castellazzi, Elio Mioni, Alessandro Capuzzo (I verdi, Italien), Patrice Miran (Les Verts, Frankreich), Paul Lannoye, Alexander Langer, Gérard Monnier Besombes, Claudia Roth, Eva Quistorp, Wilfried Telkämper, Nel v.Dijk (Mitglieder des E.P.); Juan Behrend, Fernanda Lapa, Massimo Babich, Daniela Detomas, Olivia Ratti, Diana Johnstone, Mardoeke Boekraad (Mitarbeiter der grünen Fraktion im E.P.); dazu verschiedene Beobachter, darunter der jugoslawische Generalkonsul in Straßburg, Andrej Novak.
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