Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Zusammenleben

Biographie Schriften - Alexander Langer
Albanien Europa Ex-Jugoslawien Friedenspolitik Grüne Kultur Israel/Palestina Lebensstile Nord/Sud Ost/West Politik Religion Südtirol - Alto Adige Umweltpolitik Zusammenleben
Bibliographie Erinnerungen Nachlass
(22) Cassar-Simma: Trag Sorge - Abbi Cura - Take Care (11)

Kultur des Zusammenlebens

1.10.1987, Vortrag in Wien, 1987; erschienen in: Bauböck-Baumgartner-Perchinig-Pinter (Hrsg.), Und raus bist du, Verlag für Gesellschaftskritik, Wien, 1988
Nicht nur in den entwickelten Ländern mit kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist ein beachtliches Erwachen ethno-nationaler Bestrebungen und Bewegungen in vielen Erscheinungsformen festzustellen.

1. Ethno-nationales Erwachen

Wie dieses Erwachen im einzelnen aussieht, an welchen Merkmalen es festzumachen ist und zu welchen Folgen es führt, soll hier nicht Gegenstand der Erörterung sein.

Nur eines muß gleich zu Beginn festgehalten werden: dieses ethno-nationale Erwachen - ich wähle hier bewußt einen sehr allgemeinen und mehrdeutigen Begriff - zeichnet sich durch überaus breitgefächerte Vielfalt aus und weist mindestens so viele Erscheinungsformen auf, als Volksgruppen oder Völker und dergleichen mehr davon betroffen sind.

Hier wollen wir uns vor allem mit jenen Formen ethnonationaler Bestrebungen und Bewegungen befassen, die sich auf Minderheiten beziehen und in der Regel einen Konflikt mit dem Staat oder anderen vorherrschenden politischen Ordnungen einschließen. Der hier angesprochene Ethnonationalismus entfaltet sich also in Gruppen, die sich auf irgendeine Weise benachteiligt, bedroht oder ausgeschlossen fühlen und die über keine oder keine ausreichende Staatsmacht verfügen, um ihre Selbstbehauptung über eine politische, öffentlich anerkannte Ordnung durchzusetzen. Der Nationalismus von Völkern oder Volksgruppen, welche über eine eigene staatliche Macht verfügen, muß - zumindest teilweise - nach anderen Kritierien und Begriffen untersucht werden.

Gewöhnlich werden solche ethnonationale Bewegungen und Bestrebungen derzeit vor allem von herkömmlichen Volksgruppen oder Minderheiten getragen, die schon seit langem ansässig und in der Regel stark ortsgebunden sind. Eine Ausnahme bilden die "Zigeuner", also die Roma und Sinti, und die Juden. Allerdings lassen sich jetzt schon Zeichen dafür ausmachen - wie Erfahrungen aus verschiedenen Staaten, wie zum Beispiel Deutschland, Frankreich, Schweiz, Niederlande, Italien etc. bestätigen -, daß es auch unter neuartigen Minderheiten ein ähnliches Erwachen gibt. Denken wir beispielsweise nur an die Arbeitsimmigranten und an die Flüchtlinge oder Asylanten. Es wird auf die Dauer wohl kaum vertretbar sein, diesen neuartigen Minderheiten und Volksgruppen zu verweigern, was man allmählich den herkömmlichen Gruppen zuzubilligen gewillt ist. Überdies befinden sich diese Minderheiten, die auf Einwanderungen in jüngerer oder jüngster Zeit zurückgehen, oft in noch wesentlich schlechteren materiellen und politisch-rechtlichen Umständen als die herkömmlichen Volksgruppen oder Minderheiten.

Man wird voraussichtlich immer mehr damit rechnen müssen, daß das ethno-nationale Anliegen zu jenen neu auftauchenden oder neu sich zuspitzenden kulturellen oder sozialen Anliegen gehört, die sich quer zur Logik der Industriegesellschaft stellen und die aus objektiven oder subjektiven Gründen zum Durchbruch kommen. Hier gibt es so manche Ähnlichkeit mit dem Phänomen des religiösen Erwachens oder Wiedererwachens und anderen kulturellen und identitätsorientierten Bewegungen.

Im einzelnen ist der Bogen der Besonderheiten, der Unterschiede und der verschiedenen Akzente bei den diversen ethno-nationalen Bewegungen und Bestrebungen sehr weit gespannt. Ja, er kann sogar wirkliche oder scheinbare Gegensätze aufweisen. Das hängt nicht nur mit dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der einzelnen Bewegungen zusammen, sondern vor allem von den sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Umständen ab, die für die einzelnen Volksgruppen, Minderheiten oder Gruppen kennzeichnend sind. Dazu gehören unter anderen: Typ des Staates und der Rechtsordnung, Sprache (Sprachen, Mundarten, usw.), Nachbarschaft zu gleich- oder andersnationalen Staaten oder Gebieten, Geschichte, Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur, historische Rolle und Erfahrung der betreffenden Volksgruppe, Art der Siedlung, Konfession, die soziale, politische, religiöse und kulturelle Organisation der betreffenden Volksgruppe, vorherrschende Ideologie, Konflikterfahrung, Ziele und Kampfformen und dergleichen mehr. Nicht zuletzt fällt natürlich das quantitative Ausmaß der betreffenden Volksgruppe oder Minderheit ins Gewicht.

2. Trittbrettfahrer des ethno-nationalen Erwachens

Neben den zahlreichen Unterschieden zwischen den Volksgruppen, deren ethno-nationale Bestrebungen wir untersuchen, sind auch die oft sehr unterschiedliche Qualität und Relevanz des ethnischen und nationalen "Erwachens" zu beachten.

Denken wir beispielsweise an Korsika, Okzitanien, Galizien, Friaul, Schottland oder ähnliche Gebiete, in denen sich in den letzten Jahren ethno-nationale Bewegungen zu Wort gemeldet haben, so handelt es sich dabei manchmal um Völker oder Volksgruppen, deren Bewußtseinsbildung und Verankerung tiefe Wurzeln haben und deren Bestrebungen weitreichende Folgen auslösen können. Die Bedeutung derartiger Bewegungen läßt sich unter anderem auch an den Gegenmaßnahmen der betroffenen Regierungen erkennen.

Daneben gibt es allerdings auch Fälle, in denen die Appelle ans Volkstum, an die "Heimat", an die "Wurzeln", an die "volkliche Eigenart" und dergleichen mehr sich recht zweifelhaft und eher suspekt ausnehmen. Ethno-nationale Ansprüche und Argumente werden auch von Gruppen formuliert, die in erster Linie auf Entsolidarisierung und die Verteidigung alter Privilegien abzielen oder gar Rassismus und Fremdenhaß entfachen wollen. Es wird von großer Bedeutung sein, die verschiedene Qualität der ethno-nationalen Ansprüche im Auge zu behalten.

Gerade die Ereignisse in Kärnten machen deutlich, wie unterschiedlich eine national gefärbte Kampagne für das sowieso dominierende "Deutschtum" oder für die Anliegen der dominierten Slowenen gelagert sein kann.

3. Zum Problem der Einordnung dieser neuen Bewegungen innerhalb traditioneller politischer Orientierungen

Angesichts der neuen ethno-nationalen Bewegungen erweisen sich auch die herkömmlichen Kriterien, nach denen vor allem die politische Linke ihre Einschätzungen der verschiedenen nationalen, autonomistischen, separatistischen oder ähnlicher Bewegungen vorgenommen hatte, als unzureichend, da sich damit keine zuverlässige Einordnung treffen läßt und da sich verschiedene Begriffspaare verschoben und in ihrem Sinn gewandelt haben. Wo gibt es überhaupt universelle Anliegen, denen man das Partikulare, das Besondere gerne opfern würde? Und warum sollte beispielsweise Verwurzelung weniger gelten als Emanzipation, insbesondere wenn diese zwar die abstrakten Wahlmöglichkeiten und Chancen vervielfacht, aber mit Entwurzelung verkettet? Und wie kann man von jemandem verlangen, seine besondere ethnische Identität - so beschränkend sie auch sein mag - zurückzustellen und sich allgemeinen Menschheitsidealen zu verschreiben, wenn als Lohn dafür nur eine sehr undifferenzierte und nach allen Seiten austauschbare Allerwelts"identität" winkt?

Und angesichts eines unsicher gewordenen und hin- und hergebeutelten Internationalismus ist es vielleicht auch nicht so verwunderlich, daß der eigene Kirchturm als Orientierungshilfe an Bedeutung gewinnt. Und kann der sogenannte Kosmopolitismus, das "Weltbürgertum", eine wirklicxh überzeugende und befriedigende Alternative zum Rassismus darstellen?

Mit diesen oder ähnlichen Begriffspaaren, die aus der Polarisierung zwischen traditionell "rückständigen" bezw. "fortschrittlichen" Auffassungen stammen, ist also nicht viel anzufangen.

Denn nicht nur Frankreich hat im Zeichen der Gleichheits-, Freiheits- und allgemeinen Bürgerlichkeitsideale seine Volksgruppen und Minderheiten geleugnet und gleichgeschaltet. Man denke nur daran, wie im Namen des Fortschritts lokale Sprachen und Dialekte überrollt wurden. Auch heute noch gibt es Menschen, die ihre nationale Befreiung, etwa in der Bundesrepublik Deutschland, darin sehen, Tamilen und Vietnamesen auszuweisen. Und Leute, die im Namen des Leidens osteuropäischer Ghettos eine sichere Zukunft suchten, konnten zu palästinenserfeindlichen Siedlern im Westjordanland werden.

Rassismus und Fremdenhaß, Zwangsassimilation und Unterdrückung von Minderheiten sind mögliche Spielarten ethno-nationaler Anliegen. Dabei ist vielleicht den kleinen Völkern und Volksgruppen zugutezuhalten, daß ihr Nationalismus meist weniger Unheil anrichten konnte und kann, als jener der großen und mächtigen Völker.

Wenn wir von ethno-nationalem Erwachen sprechen, sollten wir also bedenken, daß sich darunter die verschiedensten Tendenzen verbergen, und daß viele dieser Bewegungen noch keine Probe aufs Exempel geliefert haben und oft auch gar nicht liefern konnten. Denn wo solche Proben geliefert wurden und wo aus ethno-nationalen Bewegungen Formen auch staatlicher Machtausübung geworden sind - man denke an die Deutschsüdtiroler, die Frankokanadier oder die Flamen in Belgien -, kann man darin gewiß nicht lauter Prunkstücke von befreiender Qualität erblicken. (Allerdings gilt dies nicht nur für ethno-nationale Bewegungen. Auch viele andere Befreiungsbewegungen haben nach der Machtergreifung ihren befreienden Charakter sehr schnell verloren!)

4. Ethno-nationale Bewegungen und die "neuen sozialen Bewegungen"

Heute besteht ein interessanter Ansatz darin, in den ethno-nationalen Bewegungen einen spezifischen Ausdruck des verbreiteten Widerstandes gegen die verschiedenen Formen von Herrschaft und Gleichschaltung zu sehen. Wer sie als Teil jener "neuen sozialen Bewegungen" sieht, die in den komplexen Industriegesellschaften quer zur vorherrschenden Logik von Profit und Produktivität, Disziplinierung und reibungslosem Funktionieren ihren Anspruch auf Eigenart und ihren Widerstand gegen Einebnung geltend machen, spricht damit einen wichtigen Zug an, der diesen ethno-nationalen Bewegungen innewohnen kann, aber nicht muß.

Sicher gibt es eine Reihe von Parallelen zwischen den ethno-nationalen Bewegungen und anderen "neuen sozialen Bewegungen" wie dem Feminismus, der Friedensbewegung, der Ökologiebewegung oder verschiedenen religiösen und spirituellen Bewegungen. Gemeinsam ist ihnen beispielsweise eine Festlegung auf einzelne Zielsetzungen ("one-issue"), ohne unbedingt einen größeren ideologischen Rahmen herbeizubemühen, die Ablehnung, sich in die Klassenpolarisierung oder andere allgemeine ideologische Fronten zwängen zu lassen, und der Wille, gegenüber der herkömmlichen "rechts-links" Orientierung einfach "anderswo" zu stehen.

Programm dieser Bewegungen ist in erster Linie die Selbstbehauptung, die Behauptung der eigenen Identität. Ähnlich wie die Frauenbewegung, spüren auch ethno-nationale Bewegungen oft den Widerspruch zwischen der Verteidigung des eigenen "Andersseins" und dem Bemühen, im Namen der spezifischen Eigenart auch die größere Gemeinschaft zu verändern und in ihr Geltung zu gewinnen.

Zwei Beziehungen allerdings charakterisieren in besonderer Weise die ethnonationalen Bewegungen im Vergleich zu anderen sogenannten "neuen sozialen Bewegungen". Da ist einmal die Beziehung zur Überlieferung und zur Vergangenheit, worin ja letztlich ihre Besonderheit zu suchen ist, und andererseits die Beziehung zur Staatsmacht, beziehungsweise ihre stark verbreitete Neigung, sich ihrerseits zur Staatsmacht oder staatsähnlichen Macht zu konstituieren. Mit anderen Worten könnte man vielleicht sagen, daß die ethno-nationalen Bewegungen gewissermaßen dazu "verdammt" sind, ihre Vergangenheit und damit ihren Existenzgrund als besondere Volksgruppe oder Minderheit hochzuhalten und aufzuwerten, weil darin ja ihre kollektive Eigenart vor allem verankert ist. Und zugleich sind sie - wennschon nicht gerade "verdammt" - so zumindest stark der Versuchung ausgesetzt, die Lösung ihrer Schwierigkeiten vor allem in der Errichtung einer eigenen staatlichen oder staatsähnlichen Macht zu suchen, sei es nun durch Gründung eines eigenen Staates, oder durch Abtrennung und Angliederung an einen näher verwandten Staat oder durch die verschiedenen Formen der Autonomie oder Selbstregierung bis hin zur Errichtung von eigenen Körperschaften und Behörden.

Unter diesem Gesichtspunkt sind die ethno-nationalen Bewegungen nicht unbedingt mit den sonstigen "neuen sozialen Bewegungen" verknüpft, die ja häufig eher die Auflösung von Machtstrukturen oder den Ausstieg aus Staat und Staatlichkeit verfolgen, obwohl zahlreiche, vor allem jüngere Angehörige der ethno-nationalen Bewegungen subjektiv auch "grün", "pazifistisch" oder "feministisch" eingestellt sein können. Dieser recht verbreitete ideelle Hintergrund vieler Aktivisten ethno-nationaler Bewegungen wird nicht ohne Folgen auf den Charakter und die Einstellung dieser Bewegungen bleiben.

5. Die Kultur des Zusammenlebens

Es ist einsichtig, daß sich Identität und Bewußtsein der diskriminierten und unterdrückten Volksgruppen und Minderheiten vor allem aus einem Konflikt heraus determinieren, aus der Erkenntnis der eigenen Unterdrückung und Benachteiligung, aus dem Kampf gegen Ausgrenzung und Entrechtung, aus der Verteidigung der eigenen Rechte und der bedrohten Identität, aus dem Bemühen um die eigene Selbstbehauptung. Somit ist es vor allem der Volkstumskampf, der in der Regel zum Erwachen und Erstarken der individuellen und gemeinschaftlichen ethnischen Identität führt. Nicht selten nimmt dieser Volkstumskampf auch gewaltsame Formen an.

Es gibt Fälle, in denen aus dem Volkstumskampf diskriminierter VoIksgruppen und Minderheiten staatliche oder staatsähnliche Rechtsordnungen entstanden sind, in denen der Volkstumskampf in gewissem Ausmaß anerkannt, normiert und institutionalisiert worden ist. Die betreffenden VoLksgruppen sind sozusagen verstaatlicht und verrechtlicht worden. Man denke zum Beispiel an die Flamen und Wallonen in Belgien, die Südtiroler in Italien, die Katalanen und Basken in Spanien, die Frankokanadier, an den Schweizer Jura, an die Griechen und Türken auf Zypern oder an die Konfessionen bzw. Volksgruppen im Libanon. Die beiden letztgenannten Beispiele stehen am deutlichsten für überreglementierte und stark ethnozentrische Lösungsmodelle und haben ja auch blutige Konflikte mit sich gebracht.

Auch in den vergleichsweise am besten geregelten Fällen, in denen die einzelnen Volksgruppen in verschiedenen Formen und in verschiedenem Ausmaß Anerkennung zahlreicher Rechte und echte Selbstregierung oder wirksame politische Mitsprache erlangt haben, wie etwa in der pluralistischen Schweiz, in Jugoslawien oder auch in Südtirol, geht es doch immer um einen institutionalisierten und gewissermaßen disziplinierten ethnischen Konflikt, unter Umständen mit Quotenregelungen, ethnischen Garantieklauseln und dergleichen mehr.

Hier ist nun im Zusammenhang mit den erwachenden oder bereits aktiven ethno-nationalen Bewegungen eine sehr ernsthafte und fast peinliche Frage zu stellen. Da der ethnische Konflikt, der den Initiativen dieser Volksgruppen und Minderheiten zugrunde liegt, immer auch ein gerüttelt Maß an Ausschließlichkeitsanspruch und Unvereinbarkeit nicht nur gegenüber dem Staat, sondern vor allem auch gegenüber anderen Volksgruppen oder Menschengruppen beinhaltet, muß die Frage gestellt werden, wo und wie sich die Selbstbehauptung der Volksgruppe mit der Koexistenz gegenüber den "anderen" versöhnen läßt, die nicht zur betreffenden Volksgruppe gehören. Insbesondere wer die ethno-nationalen Bewegungen als Teil der "neuen sozialen Bewegungen" verstehen will, kann dieser Frage nicht ausweichen. Man kann doch dem Ausschließlichkeitsanspruch der Staaten, die mit den minderheitlichen Volksgruppen durch Assimilation oder Ausgrenzung fertig werden wollen, nicht durch einen entgegengesetzten Ausschließlichkeits- und Totalitätsanspruch der VoIksgruppen oder Minderheitenbewegungnen entgegensetzen, wenn man in einer Perspektive der Befreiung arbeiten will.

Volksgruppen gehören, zum Unterschied von politischen Parteien, nun einmal nicht zu jenen Minderheiten, die hoffen können, durch Überzeugungsarbeit soviele neue "Anhänger" zu gewinnen, daß sie vielleicht irgendwann zur Mehrheit werden. Somit bleiben, wenn man die Assimilation, gegen die ja gerade die ethno-nationalen Bewegungen zu Recht kämpfen, ablehnt, nur zwei Möglichkeiten offen. Entweder strebt man eine Lösung an, durch die man Herr im eigenen Haus wird, zum Beispiel durch Erlangung der Mehrheit oder Alleinherrschaft, oder man muß einen Weg für das Zusammenleben finden. Das deutlichste Beispiel für den ersten dieser beiden Wege bietet vielleicht der Zionismus und dessen Verwirklichung durch den Staat Israel, aber auch andere Lösungen, wie zum Beispiel in Belgien, Spanien, Zypern und in gewissem MaBe auch in Südtirol gehen in diese Richtung.

Wenn man also einen bezeichnenden Unterschied in der Qualität des traditionellen Nationalismus und der neuen Ausrichtung ethno-nationaler Bewegungen sucht, kann gerade die Frage des Zusammenlebens der wichtigste Prüfstein dafür sein. Natürlich wird man von einer Volksgruppe, deren Überleben nicht einmal gesichert ist, nur schwer verlangen oder erwarten können, daß sie sich schon Gedanken über das Zusammenleben macht. Hier hängt also ungeheuer viel von den betreffenden Staaten ab, in denen die jeweilige Volksgruppe angesiedelt ist.

Doch gibt es einen Ausgangspunkt, dessen Annahme oder Ablehnung sowohl die Volksgruppen als auch die Staaten zu sehr verschiedenen Schlußfolgerungen führt. Es geht um die Akzeptanz einer pluriethnischen Koexistenz, des Zusammenlebens auf mehrsprachiger, pluri-konfessioneller, pluri-kultureller und pluri-nationaler Basis. Natürlich sind derartige Ausgangssituationen mit mehreren Volksgruppen auf demselben Territorium häufig das Ergebnis historischer Ungerechtigkeiten und Gewaltanwendung, doch wären solche Situationen der Koexistenz - wenn überhaupt - nur durch Gewalt zu "bereinigen" (Vertreibung, Umsiedlung, usw.) - während doch vieles dafür spricht, daß solche Kohabitationen in

Zukunft eher zu- als abnehmen werden.

Wenn man also anerkennt, daß in der übergroBen Mehrzahl jener Fälle, in denen ethno-nationale Bewegungen aktiv sind oder gerade erwachen und sich entfalten, keine vertretbaren Alternativen zum Zusammenleben möglich sind, wird die Frage des Aufbaues einer "Kultur des Zusammenlebens" zu einer zentralen, wenn auch bisher in der Theorie und Praxis der betroffenen Staaten und Volksgruppen kaum thematisierten Frage.

Natürlich gibt es keinerlei allgemeingültige Beispiele oder Modelle fürs Zusammenleben. Auch die nicht gar so zahlreichen Beispiele, wo die Frage des Zusammenlebens und der Kultur für das Zusammenleben ausdrücklich angesprochen werden, lassen keine Verallgemeinerung zu. Man denke etwa an die zweisprachigen Gebiete der Schweiz, an Brüssel, an das Elsaß, an Südtirol, an Jugoslawien oder an die Slowenen in Österreich und in Italien. Aus all diesen Situationen läßt sich zwar viel lernen, aber keine dieser Situationen konnte als allgemeines Lösungsmodell schlechthin hingestellt werden.

Die Schwierigkeit, Selbstsein und Beziehung mit den anderen zu vereinbaren, die Spannung zwischen Identitätserhaltung und gesellschaftlicher Veränderung, zwischen Gruppenidentität und den Beziehungen der einzelnen Gruppenangehörigen, die gegenseitige Interaktion der Volksgruppen, die Einbeziehung der jeweils "anderen", die Frage des Gewaltverzichtes, aber auch des Verzichtes auf Expansionismus, Assimilation, Selbstisolierung und Rassismus - diese und noch viele anderen Fragen erfordern einen pluri-ethnischen Ansatz, der bisher noch recht wenig erforscht und praktiziert wird.

Diesbezüglich können gerade auch jene Minderheiten innerhalb der Volksgruppen, die sich dem Problem des Zusammenlebens ausdrücklich stellen und dazu auch praktische Erfahrung sammeln, eine besondere Vorreiterrolle spielen.

Natürlich müssen in erster Linie die Staaten die Mindestvoraussetzungen dafür leisten, daß eine Kultur des Zusammenlebens überhaupt denkbar erscheint. Man kann von den Volksgruppen und Minderheiten schwerlich erwarten, daß sie offenen oder schleichenden Völkermord mit einer Kultur des Zusammenlebens beantworten.

Oberhalb dieser Grenze wird aber eine Kultur des Zusammenlebens, die vor allem aus der Eigeninitiative innerhalb der betroffenen Volksgruppen und der sensiblen Angehörigen der Mehrheitsvölker entstehen kann, eine neue Qualität der ethno-nationalen Bewegungen offenbaren und ermöglichen. Diese Kultur des Zusammenlebens wird ein Prüfstein für den "neuen" Charakter der ethno-nationalen Bewegungen sein und eine Voraussetzung dafür, daß sie Verbündete finden und auch über den oft engen Tellerrand ihrer besonderen Situation hinaussehen können.

pro dialog