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Alexander Langer: Zehn Punkte fürs Zusammenleben

1.3.1994

1. Das gemeinsame Vorkommen mehrerer Volksgruppen wird immer häufiger der Normalzustand, nicht die Ausnahme sein; die Alternative lautet: entweder ethnische Ausgrenzung oder Zusammenleben.

Es wird immer häufiger vorkommen, daß in Europa Gemeinschaften verschiedener Sprache, Kultur, Religion, ethnischer Zugehörigkeit gemeinsam siedeln, vor allem in größeren Städten. Dies ist nicht neu. Auch im Altertum und im Mittelalter gab es in vielen europäischen Städten afrikanische, griechische, armenische, jüdische, deutsche, spanische... Gemeinden.

Das Zusammenleben zwischen Volksgruppen*, Kulturkreisen, Konfessionen, Sprachen, Nationen u.dgl. gehört somit zum europäischen Normalzustand und ist keine außergewöhnliche Ausnahme und dies wird zukünftig immer häufiger vorkommen. Damit ist noch nicht gesagt, daß dies leicht oder problemlos gelingt; ganz im Gegenteil. Fremdes, Ungewohntes, Verschiedenes kann das Leben komplizieren, Mißtrauen oder Angst erwecken, Spannung herbeiführen und unter Umständen Konflikt oder Konkurrenz bis zum extremen - entweder/oder - (-mors tua, vita mea-) steigern. Daß der Umgang mit Fremden nicht immer leicht ist, weiß man selbst aus der Erfahrung von Menschen, die aus einem Tal ins andere heiraten oder umsiedeln: gegenseitiges Kennenlernen, Anpassung, Respekt sind gefordert. Die Zunahme von großen Wanderungsströmen und die hohe Mobilität, die mit der modernen Industrie- und postindustriellen Gesellschaft zusammenhängt, führt unweigerlich auch zu wesentlich häufigeren und viel weiter verbreiteten Gelegenheiten inter-kultureller und inter-ethnischer Berührung und Begegnung und zwar in allen Teilen der Welt. Zum ersten Mal in der Geschichte ist es vielleicht? hoffentlich! möglich, so erhebliche Wanderungen und Verschiebungen von Personen, Gruppen und Völkern auf friedliche Weise zu bewältigen, obwohl sie häufig durch Gewalt (Elend, Ausbeutung, Umweltzerstörung, Krieg, Verfolgung...) verursacht wurden. Doch genügen weder Rhethorik noch guter Wille, um damit fertigzuwerden: will man tatsächlich das Zusammenleben zwischen unterschiedlichen Personen oder Gruppen auf demselben Territorium aufbauen, gilt es, eine umfassende und vielschichtige Kunst des Zusammenlebens zu entwickeln. Andererseits wird aber auch immer deutlicher, daß die forcierte Durchsetzung vermeintlicher ethnischer oder vergleichbarer (wie etwa konfessioneller, nationaler, stammesbezogener, rassischer) Rechte durch Zielsetzungen wie Errichtung ethnischer Staatswesen, Durchführung ethnischer Säuberungen oder nationaler Gleichschaltung, durch ethnische Separation oder Sezession u.dgl.m. Konflikte und Kriege unvorhersehbaren Ausmaßes nach sich zieht. Die Alternative zwischen ethnischer Ausgrenzung (wie immer man sie begründen mag, selbst wo es sich um Selbstschutz handelt) einerseits und pluri-ethnischem Zusammenleben andererseits ist heute die eigentliche Schlüsselfrage der Volksgruppenproblematik: mag es sich dabei um unterdrückte oder minderheitliche Volksgruppen handeln, mögen sie vor kürzerer oder längerer Zeit eingewandert sein, mag es um religiöse oder ethnische Minderheiten gehen, mag ethnisches Erwachen oder der Konflikt zwischen Volksgruppen, Konfessionen oder Kulturen im Spiel sein.

Pluri-ethnisches Zusammenleben kann als Bereicherung und neue Chance empfunden werden aber auch als negativer Zustand, zu dem man sich verurteilt fühlt. Nicht Predigten gegen Rassismus, Intoleranz und Fremdenhaß werden den Durchbruch bringen, sondern viel eher positive Erfahrungen und Projekte, die eine Kultur des Zusammenlebens glaubhaft verkörpern.

2. Identität und Zusammenleben sind nicht trennbar; kein Zwang zum Einschluß, kein Zwang zum Ausschluß

»Je klarer wir trennen, desto besser verstehen wir uns.« Diese Devise galt früher für lange Zeit in Südtirol, unter diesem Motto geht man auch heute an die verschiedensten Situationen heran, wo mehrere Volksgruppen gemeinsam vorkommen und man die damit verbundenen Probleme im wesentlichen durch Trennung lösen»möchte. Die Idee der melting pots_(Schmelztiegel) wie man beispielsweise in den USA anstrebt begeistert niemanden in Europa, gegen mehr oder weniger erzwungene Assimilation wehrt man sich vielerorts. Aber gleichzeitig gibt es Bewegungen für Gleichheit, gegen ethnische Ausgrenzung und Diskriminierung, für Gleichberechtigung. Da ist ein Widerspruch.

Bisher wurde oft entweder die Politik des zwangsweisen Einschlusses (Assimilierung, Verbot und Unterdrückung sprachlicher oder religiöser Vielfalt) oder des zwangsweisen Ausschlusses (Ausgrenzung, Ghettoisierung, Vertreibung, Vernichtung) versucht beide haben weder Gerechtigkeit noch Befriedung gebracht. Gefordert ist hingegen eine breitere Palette individueller und kollektiver Optionen: es braucht sowohl ethnische Intimität (das Unter-sich-Sein) als Begegnung und Kooperation zwischen Volksgruppen. Gewährleistung der Erhaltung der Eigenart, einerseits, und echte Gleichberechtigung und Partizipation andererseits gehören zusammen und ergänzen sich gegenseitig. Dies erfordert jedoch nicht nur entsprechende öffentliche und verbindliche Regelungen und Institutionen, sondern vor allem, daß sich die betroffenen Volksgruppen für den Weg des Zusammenlebens statt der Konfrontation entscheiden.

3. Gegenseitiges Kennenlernen, Dialog, Information, Interaktion:  "Je mehr wir miteinander zu tun haben, desto besser verstehen wir uns"

Das Zusammenleben bietet und fordert viele Möglichkeiten gegenseitigen Kennenlernens. Damit dies mit gleicher Würde und ohne Ausgrenzung geschehen kann, braucht es die größtmögliche gegenseitige Kenntnis. »Je mehr wir miteinander zu tun haben, desto besser verstehen wir uns« könnte die Antwort auf das oben zitierte Trennungsgebot lauten. Sprache, Geschichte, Kultur, Bräuche, Gewohnheiten, Ängste, Vorurteile, Stereotype der verschiedenen zusammenlebenden Volksgruppen kennen und verstehen zu lernen, trägt entscheidend zu gute» Beziehungen bei. Eine ganz besonders wichtige Aufgabe kann dabei von Infor- mationsträgern übernommen werden, die sich gleichzeitig an mehrere Volksgruppen wenden (Zeitungen, TV- und Rundfunksendungen, Veranstaltungen in mehreren Sprachen und/oder Kulturen), aber auch gemeinsame Möglichkeiten zur Gestaltung der Freizeit, zum Lernen, usw. Jede Gelegenheit zur Begegnung, jedes Angebot an die "anderen", zumindest hin und wieder einen Blick in das Innenleben der eigenen Volksgruppe zu werfen (z.B. an Festen teilzunehmen), auch nur gelegentliche Einladungen zum Essen oder zu Ausflügen können da eine große Rolle spielen. Gemeinsame Geschichtsbücher, gemeinsames Begehen öffentlicher Anlässe, möglicherweise auch gemeinsames Gebet oder Meditation können stark dazu beitragen, die Gefahr ethnozentrischer Selbstübersteigerung in Grenzen zu halten und nicht gefährliche Selbstverständlichkeiten wachsen zu lassen.

4. Ethnic is beautiful? Ja, aber nicht eindimensional: es gibt auch noch andere gemeinsame Nenner (Umwelt, Geschlecht, soziale Anliegen, Freizeit...)

Eine Gemeinschaft nach ethnischen Kriterien zu strukturieren, mag seine Legitimität und manchmal auch seine guten Gründe haben. Nur muß es sich um eine freie und demokratische Organisationsweise handeln, nicht um eine ausschließliche und dadurch wiederum totalitäre Einengung auf eine einzige Dimension. Man wird also zu akzeptieren haben, daß es ethnische Parteien, ethnische Vereine, ethnische Clubs, vielleicht sogar ethnisch strukturierte Kirchen und Schulen geben kann. Will man aber das Zusammenleben stärker fördern als die ethnische Isolierung und/ oder Selbstisolierung, gilt es, auch alle anderen Dimensionen des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens aufzuwerten, die sich nicht in erster Linie ethnisch strukturieren. Man denke dabei zuallererst an die gemeinsame Sorge für Umwelt und Lebensraum, aber auch an berufliche, soziale, altersbedingte und viele andere Interessen. Gerade die besondere Sensibilität von Frauen kann in vielen Fällen quer zu ethnischer Abgrenzung verbindend wirken. Es darf nicht dazu kommen, daß Menschen ihr ganzes Leben und ihren gesamten Tagesablauf in Strukturen und Zusammenhängen verbringen, die vor allem ethnisch gekennzeichnet sind: sie brauchen auch Gelegenheiten, bei denen es selbstverständlich zu inter-ethnischer und inter-kultureller Begegnung kommt. Insofern ist es besonders wichtig, daß sich die einzelnen Menschen verschiedener Volksgruppen nicht bloß auf dem Umweg über die sozusagen offizielle Vertretung ihrer Volksgruppe also von Block zu Block, von Lager zu Lager begegnen. Deshalb ist es von so großer Bedeutung, daß auch in stark ethnisch gefärbten Gesellschaften und Strukturen Menschen- und Personenrechte gelten, die neben den notwendigen kollektiven Rechten und Garantien auch den einzelnen Personen Sicherheit bieten. Gewiß, viele Rechte haben ihre ethnische und damit notwendigerweise eine kollektive Dimension: sie haben mit Sprache, Schutz der Tradition usw. zu tun, doch nicht alle kollektiv begründeten Rechte müssen auf ethnischer Basis in Anspruch genommen werden; insbesondere soziale und umweltbezogene Rechte (Wohnung, Arbeit, Fürsorge, Gesundheitsschutz, usw.) müssen unabhängig von jeder ethnischen Zuordnung beanspruchbar sein.

5. Ethnische Zugehörigkeit so durchlässig als möglich machen, Zugehörigkeit und Mitmachen auf mehreren Seiten nicht ausschließen

Normalerweise bedarf es keiner besonderen Festlegung, um die ethnische Zugehörigkeit zu bestimmen und abzugrenzen: sie geht auf Geschichte, Tradition, Erziehung, Gewohnheiten zurück, noch lange bevor sie bewußte Option, gewollte Entscheidung wird. Je rigider und je forcierter aber die Festlegung der Zugehörigkeit und die Abgrenzung gegenüber anderen wird, desto bedrohlicheres Konfliktpotential steckt in solchen Regelungen. Die Aufbauschung ethnischer Treue oder gar die erzwungene ethnische Loyalität etwa im Gebrauch der Sprache, Teilnahme an religiösen Übungen oder in der Bekleidung (bis hin zum Uniformzwang), aber auch im alltäglichen Verhalten, und erst recht die gesetzliche Definition einer rechtswirksamen Zugehörigkeit (samt Eintragung in Register oder dergleichen) tragen in sich den unheilvollen Auftrag, einander zu zählen und zu messen, was auch Kraftproben, Tauziehen und Majorisierung bedeuten kann bis hin zur Errichtung von Barrikaden und sonstigen geradezu physischen Grenzziehungen, bis hin zur Forderung nach einem je eigenen Siedlungsgebiet für jede Volksgruppe.

Deshalb ist es so wichtig, eine pragmatischere und flexiblere vor allem: weniger exklusive Auslegung der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe, Konfession u.dgl. zu bevorzugen: es muß eine gewisse Osmose mit fließenden Übergängen zwischen verschiedenen Gemeinschaften möglich sein, es muß für Grenzgänger erlaubt sein, sich da und dort zuzugesellen und teilzuhaben, es braucht neben dem klar definierten Territorium auch "Grauzonen", Freiräume für Begegnung ("Freihandelszonen", würde man sie kommerziell nennen), Existenzmöglichkeiten mit einem möglichst geringen Definitionszwang, ohne Herumreiten auf ethnischer oder konfessioneller Disziplin, dafür mit Chancen auf freieren Austausch, Kommunikation, Interaktion.

Man muß vermeiden, Personen gesetzlich in eine ethnische, konfessionelle oder gar rassische Schablone zu zwängen, ja, sie womöglich zu kennzeichnen dies zu verhindern, gehört zu den notwendigen Vorbeugungsmaßnahmen gegen ethnische Konflikte, Xenophobie, Rassismus, Vertreibungsgelüste.

Die echte Selbstbestimmung der Personen und der Volksgruppen darf nicht vor allem die Festlegung der eigenen Grenzen oder den Erlaß von Zugangsverboten im Auge haben, sondern muß vielmehr von der positiven Benennung von Wert- und Zielvorstellungen ausgehen, und darf auf keinen Fall soweit gehen, daß Ausschließlichkeit und Trennung damit verbunden sind. Es muß auch die Möglichkeit geben, mehreren Gemeinschaften gegenüber offen und loyal zu sein ohne Exklusivanspruch! Vor allem Kinder von Einwanderern oder aus "gemischten" Familien, ebenso wie Personen mit stark pluralistischen oder kosmopolitischen Zügen brauchen diese Chance.

6. Pluri-ethnisches Zusammenleben muß auch sichtbar anerkannt werden: Rechtsordnungen, Symbole, Alltagsgesten müssen ausdrücklich das Heimatrecht für die Vielfalt verkörpern

Das gemeinsame Vorkommen von verschiedenen Volksgruppen, Sprachen, Kulturen, Religionen, Traditionen ... auf dem gleichen Siedlungsgebiet, in der gleichen Stadt, erheischt Anerkennung und sichtbares Heimatrecht. Die Angehörigen verschiedener Volksgruppen usw. müssen sich _daheim_ fühlen können, ihr Bürgerschaftsrecht muß anerkannt sein, ihr Anspruch auf Ver-wurzelung muß berücksichtigt werden. Zwei- oder Mehrsprachigkeit, entsprechender Freiraum und Existenzrecht für die verschiedenen religiösen, kulturellen, sprachlichen und sonstwie "ethnisch" charakterisierten Einrichtungen gehören ebenso dazu wie das Vorhandensein von Strukturen und Möglichkeiten zur Begegnung. Je deutlicher das Heimatrecht und damit der freie Ausdruck von Identität auf dem ganzen gemeinsamen Siedlungsgebiet gesichert sind und je sichtbarer somit verschiedene Religionen, Sprachen und Kulturen auftreten können, desto weniger Raum wird die Forderung nach eigenen und exklusiven Territorien, Institutionen usw. finden, und desto weniger wird man sich streiten müssen, wem dieser oder jener Ort "gehört"; man denke nur an die peinlichen jahrhundertealten Streitigkeiten zwischen Religionen und Konfessionen um den exklusiven Anspruch auf die verschiedenen heiligen Stätten Jerusalems! Jede Art des ethnischen Exklusivismus oder Totalitarismus läßt sich leichter vermeiden, wenn die gleichzeitige Präsenz mehrerer Volksgruppen durch die selbstverständliche Vielfalt von Zeichen, Sprachen, Symbolen, Einrichtungen gewährleistet wird. (Bischof Franjo Komarica von Banja Luka, einer heute sehr umstrittenen pluri-ethnischen Stadt Kroatiens mit serbischer Mehrheit, drückt dies so aus: »eine Wiese mit vielen verschiedenen Blumen ist viel schöner als eine, wo nur eine einzige Blumenart blüht«)»Europa hat mühsam und nach vielen Kriegen gelernt, die konfessionelle Vielfalt auf demselben Territorium zu akzeptieren, ohne daß die eine Konfession über die anderen herrschen oder die anderen vertreiben müßte. Nun muß diese Akzeptanz auch auf das Neben- und Miteinander von Volksgruppen, Nationen, Ethnien ausgedehnt werden; ein Zusammenleben, das die Anerkennung geeigneter individueller und kollektiver Rechte erfordert, um allen die gleiche Würde und die gleiche Freiheit zu sichern. Dies muß die Regel werden, nicht die Ausnahme bleiben.

7. Rechte und Garantien sind wesentlich, genügen aber nicht; ethnozentrische Regeln fördern ethnozentrisches Verhalten

Man darf nicht glauben, daß ethnische Identität ebenso wie das inter-ethnische Zusammenleben vor allem durch Gesetze, Institutionen, Strukturen und Gerichte gesichert werden kann. Vielmehr kommt es auf Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Konsens der betroffenen Menschen und Gruppen an. Doch soll man die Wichtigkeit einer klaren und für alle verbindlichen Rechtsordnung nicht unterschätzen, die allen das Recht auf Eigenart (durch Absicherung sprachlicher, kultureller, schulischer, konfessioneller und sonstiger Rechte) sichert, allen Gleichberechtigung gewährleistet (Teilnahme, Information, Diskriminierungsschutz...) und die notwendige Selbstregierung ohne jeden Zwang zum Anschluß an die eine oder andere Gruppe anerkennt. Insofern ist es besonders wichtig, daß dort, wo mehrere Volksgruppen, Konfessionen usw. gemeinsam leben, die lokale Selbstverwaltung möglichst weit geht, damit alle zusammenlebenden Menschen und Volksgruppen gemeinsame Verantwortung und gemeinsame Zugehörigkeit zu dieser besonderen gemeinsamen Heimat entwickeln können. Gerade ein hohes Maß lokaler Selbstregierung kann auch ein gutes Gegenmittel gegen Anschlußgelüste, Grenzveränderungen u.dgl... sein, die erfahrungsgemäß leicht zu Konflikt und Krieg führen können.

Im übrigen sollte man bedenken, daß stark ethnozentrisch gefärbte Rechtsordnungen (in denen ethnische Zugehörigkeit und ethnische Trennung stark hervorgehoben werden) naturgemäß auch eher ethnozentrische Verhaltensweisen fördern und daher unvermeidlich Spannung und Konflikt stimulieren, während Gesetze, Strukturen und Rechtsordnungen, die eher den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Volksgruppen fördern, naturgemäß eine Kultur und Politik des guten Zusammenlebens ermutigen und stärken.

8. Von der Wichtigkeit der Vermittler, Brückenbauer, Mauerspringer, Grenzgänger; es braucht "Verräter der ethnischen Geschlossenheit", doch keine "Überläufer".

Wo immer Volksgruppen, Ethnien, Konfessionen u.dgl. auf demselben Raum zusammenleben, gibt es eine Ausgangssituation mit geringer gegenseitiger Kenntnis und Vertrautheit. Eine enorm wichtige Rolle können da Personen, Gruppen, Institutionen spielen, die sich bewußt entlang der Grenze zwischen den zusammenlebenden Gruppen bewegen und sich insbesondere der Aufgabe widmen, gegenseitiges Kennenlernen, Dialog und Zusammenarbeit zu fördern. Die Veranstaltung gemeinsamer Ereignisse oder Begegnungen, gemeinsame Aktionen u.dgl. entstehen ja nicht aus dem Nichts, sondern erfordern eine zähe und sensible Anbahnungsarbeit, wobei auch sehr viel Vermittlung und Einfühlung notwendig ist, die Sorgfalt und Glaubwürdigkeit erfordert. So wichtig es in Situationen des Zusammenlebens sein mag, die Eigenart der verschiedenen Gruppen zu pflegen, so bedeutsam ist es aber auch, daß es Kräfte gibt, die sich vor allem der Erkundung, Aufweichung und schließlich Überschreitung der Grenzen widmen. Wo Spannung oder Konflikt besteht, mag solche Tätigkeit als gefährlich beurteilt oder als Schmuggel unterbunden werden trotzdem ist sie wesentlich, um Starrheit, Abgrenzung und Feindseligkeit aufzulösen und Interaktion zu fördern.

Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus, religiöser Fanatismus u.dgl. gehören zu den explosivsten Sprengkräften, die das gesellschaftliche Zusammenleben bedrohen mehr als beispielsweise soziale, ökologische oder wirtschaftliche Faktoren. Praktisch alle Bereiche des sozialen Lebens werden angesprochen und stimuliert: Kultur, Wirtschaft, Alltag, Vorurteile, Gewohnheiten... nicht nur Politik oder Religion. Deshalb ist es so ungeheuer wichtig, daß ethnischer Konfliktstoff rechtzeitig erkannt und entschärft wird. Und gerade dazu braucht es die Abwehrkräfte gegen diesen Virus, die es in jeder Gemeinschaft gibt und die rechtzeitig unterstützt werden müssen, will man Explosionen verhindern. "Verräter der ethnischen Geschlossenheit" gehören zu den wichtigsten Abwehrkräften und bewahren kritische Distanz auch zur eigenen Gruppe nur dürfen sie sich niemals in "ethnische Überläufer" ins andere Lager verwandeln, sonst verlieren sie ihre Wurzeln und werden sofort völlig unglaubwürdig. Gerade im Konfliktfall ist es von grundlegender Wichtigkeit, die divergierenden ethnischen Anliegen zu relativieren, die ethnische Geschlossenheit und die Versuchung, Schutzmächte von außen zu mobilisieren, in Grenzen zu halten, und dafür eher die gemeinsame Bindung an den gemeinsamen Lebensraum zu unterstreichen. Dazu braucht es Menschen, die fähig sind, die ethnische Geschlossenheit als obersten Wert zu unterlaufen und zu überwinden.

9. Eine Grundvoraussetzung: Gewalt muß ausgeschlossen sein

Selten wird es inter-ethnisches Zusammenleben ganz ohne Spannungen, Konkurrenz, Konflikte geben. Eher ist es leider so, daß ethnisches Konfliktpotential (zwischen Konfessionen, Nationen, Volksgruppen, Ethnien, "Rassen"...) eine enorme Mobilisierungskraft und die Fähigkeit in sich trägt, sehr schnell kollektive Emotionen, Solidarität, Kompaktheit, Ressentiments, Rache usw. auf den Plan zu rufen. Ethnische Konflikte sind wie kaum sonst welche imstande, Geschlossenheit zu schaffen, und lassen sich nur schwer in rationale Bahnen lenken, wenn sie außer Kontrolle geraten.

Da hat eine Grundvoraussetzung Vorrang vor allen anderen: jeder Art von Gewaltanwendung muß sofort Einhalt geboten werden! Wo immer der Keim der Gewalt in ethnischen Auseinandersetzungen auftaucht, muß man ihm mit äußerster Energie entgegentreten, denn würde er toleriert, käme damit eine verheerende Spirale in Bewegung, die kaum mehr aufzuhalten ist. Auch hier ist es nicht in erster Linie eine Frage der Polizei oder der Rechtsordnung, sondern vor allem einer ganz entschiedenen moralischen, gesellschaftlichen Absage an die Gewalt; einer festverwurzelten und überzeugenden ethischen Entscheidung zugunsten demokratischer, gewaltfreier Konfliktlösung.

10. Vordenker und Vorläufer des Zusammenlebens: gemischte Gruppen

In Situationen des Zusammenlebens, der inter-ethnischen Spannung oder gar des Konflikts, gibt es ein unschätzbar wertvolles Friedensinstrument: nämlich gemischte inter-ethnische (inter-konfessionelle, inter-kulturelle...) Gruppen (so klein und bescheiden sie auch sein mögen). Solche Gruppen können am eigenen Leibe pionierhaft die Probleme, die Schwierigkeiten und die Chancen des inter-ethnischen Zusammenlebens erproben. Solche Gruppen können in den verschiedensten Feldern tätig sein: ob in Religion oder Politik, im Sport oder in der Freizeit, in Gewerkschafts- oder Kulturarbeit... In jedem Fall wird in solchen Gruppen das Zusammenleben in all seinen Aspekten praktisch erprobt und geübt wer die schwierige Kunst des Zusammenlebens schätzt oder gar erlernen möchte, wisse, daß gemischte Gruppen der beste Weg dazu sind. Sie stellen heute wohl das einfachste und gleichzeitig das wirksamste Gegenmittel gegen den allerorts aufflackernden ethnischen Konflikt und gegen den Rückfall in ethnozentrische Barbarei dar.

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