Italien multi-rassisch
Vielleicht waren es wirklich 200.000 Leute, oder eben ein bißchen weniger - jedenfalls ein ganzes Meer. Am Samstag, den 7. Oktober 1989 hat dieses Menschenmeer in Rom für eine multi-ethnische, multi-kulturelle, ja, multi-rassische Gesellschaft demonstriert, gegen Rassismus und Diskriminierung von Ausländern, für Bürgerrechte für Immigranten.
Vielleicht wollten nicht alle Teilnehmer an der Demonstration tatsächlich genau dasselbe, oder hatten alle Forderungen, die da nebeneinander erhoben wurden, bis ins letzte durchdacht: da gab es auch Transparente, auf denen stand "Allah ist der einzige Herr, niemand kann uns ausbeuten, ihm soll die ganze Gesellschaft unterworfen werden" (von Iranern mitgetragen) und andere, auf denen sich Philippinos oder Senegalesen auch für unterbezahlte Arbeit anboten...
Aber der Sinn war klar, eindeutig, beeindruckend und nicht zu übersehen: Es gibt in Italien eine breite Masse von Menschen (vielleicht keine Mehrheit, aber sicher eine starke Front), die gegenüber der rassistischen Versuchung und Erpressung, die inzwischen ganz deutlich auch Italien ergriffen hat, reagiert.
Niemand weiß genau, wieviele "terzomondiali" (so nennt man die Immigranten aus den Ländern der Dritten Welt) es inzwischen in Italien gibt; jedenfalls mehr als eine Million (auf knapp 60 Millionen Einwohner), in manchen Städten angeblich bis zu 10 % der Bevölkerung, so z.B. in Rom. Die meisten sind illegal, woran u.a. auch das Verwaltungschaos der italienischen Behörden schuld ist. Die Herkunftsländer sind zahlreich und verschieden: hatte es sich in den 70er Jahren vorwiegend um politisch motivierte Immigranten und Asylanten gehandelt (vor allem aus Lateinamerika, aber auch aus Osteuropa), geht es heute großteils um Nordafrikaner, Philippinos, Schwarzafrikaner, Polen, Indochinesen ... Am häufigsten sind sie in der Landwirtschaft (Erntehilfe), in Reinigungsdiensten, als Aushilfe im Gastgewerbe, als Wanderverkäufer, als Haushaltshilfen und private Krankenpflegerinnen und immer mehr auch als Fabriksarbeiter zu finden. Dazu kommt noch die ganze Unterwelt der halblegalen und illegalen Beschäftigungen, von der Prostitution zu Schwarzmarktbetätigungen der Immigranten. Ihre Unterkünfte, für die sie Wucherpreise zahlen, sind miserabel, ihre Löhne ungewiß und unter jeder Kritik, häufig hetzt die einheimische Konkurrenz die Polizei auf sie, manchmal greift sie zum gewaltsamen "Selbstschutz". Einheimische Konkurrenz: das sind nicht nur die satten Krämer von Rimini, Florenz und Venedig, denen der Wanderhandel der "vu' cumprà" (Verballhornung von "vuoi comprare?", willst du kaufen? - Schimpfwort für die afrikanischen Wanderhändler) ein Dorn im Auge ist, sondern immer stärker auch das italienische Proletariat und Subproletariat. Seit es in Sizilien so zahlreiche Tunesier gibt, lassen sich für Landwirtschaft, Baustellen und Fischfang unschlagbar billige Arbeitskräfte finden - da mag die Gewerkschaft noch so meckern und protestieren. Und selbst im mißtrauischen und im Prinzip zuwanderungsfeindlichen Südtirol findet man nichts daran, wenn man "zum Äpfelklauben billige Neger einstellt" (lieber möchte man allerdings DDR-Flüchtlinge, denen dieses Angebot offiziell über den Bauernbund gemacht wurde). Wenn dann aber kirchliche und sonstige karitative oder sozialkritische Verbände und Initiativen für diese Immigranten auch Wohnung und Gesundheitsdienst und später auch Schulbesuch für die Kinder und Bürgerrechte fordern, fühlen sich vor allem die sozial sowieso schwächsten Schichten der italienischen Bevölkerung als erste bedroht. Der Kampf um Arbeit und Wohnung ist nämlich auch für Italiener gewiß kein Honigschlecken - bei Arbeitslosenzahlen, die in gewissen Regionen bis zu 25% reichen und bei der chronischen Unmöglichkeit, erschwingliche Wohnungen zu finden. Zwar stimmt es, daß es mittlerweilen auch in Italien Arbeiten gibt, für die sich nur mehr unter großen Schwierigkeiten Leute finden, die sie zu verrichten bereit sind: in immer zahlreicheren Fabriken ersetzen in den alten Gießereien und an Hochöfen die Maghrebiner ihre Immigranten-Vorgänger aus Süditalien.
"Die Intellektuellen und die gutsituierten Demokraten, die sich für die Immigranten einsetzen, können sich das Maul sehr voll nehmen: wenn die Schwarzen dann bei uns wohnen, dann sicher nicht in ihren Stadtvierteln", sagen viele Leute, denen schon die (gewiß nicht zahlreichen) Zigeuner eine unerträgliche Störung scheinen, die sich aber auch bezeichnenderweise nur auf die armen und peripheren Stadtviertel auswirkt. Und so wäre es an sich nicht undenkbar, daß auch in Italien - ähnlich wie in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland - durch Fremdenfurcht und Fremdenhaß vor allem in den proletarischen Schichten eine starke Polarisierung nach rechts (Le Pen, Republikaner) heraufziehen könnte.
Aber gerade eine Demonstration wie die vom 7. Oktober gibt Hoffnung, daß es dazu - wennschon - vielleicht nur in geringerem Ausmaß kommt, und daß eine Art Impfung der italienischen Gesellschaft gegen größere Anfälligkeit für Rassismus und Xenophobie stattgefunden hat. Die Selbstorganisation der Immigranten und die spürbare Solidarität, die sie von Gewerkschaften, Kirche, Sozialverbänden, der Linken, den Grünen und vielen Gemeinden und Regionen als Sofortreaktion auf einen Mord an einem schwarzen Asylanten aus Südafrika erfahren haben, kann da möglicherweise einen gewissen Riegel vorschieben.
Trotzdem ist niemand wirklich gegen Rassismus gefeit. Die Regierung erwägt derzeit, vor allem in ihrer sozialistischen Komponente, eine Politik des "numerus clausus" bei gleichzeitiger Legalisierung und Sanierung der Lage der schon im Lande befindlichen Immigranten. Die Gewerkschaftsbünde sind sich noch sehr unsicher, wie sie sich dazu verhalten sollen, und haben zwar als Erstunterzeichner die große antirassistische Kundgebung einberufen und somit einen sehr wichtigen Beitrag zur Herstellung einer positiven Atmosphäre geleistet, sehen aber mit großer Sorge die Gefahr des Sozialdumping durch Immigranten. Kirche, Kommunisten und Grüne setzen sich zwar für eine "Politik der Akzeptanz" ein, wissen aber auch nicht viel weiter: Bürgerrechte für Immigranten, wie sie gefordert werden, sind noch weder Brot noch Wohnung, und karitative Aufnahmestellen sind Tropfen auf heiße Steine.
Allerdings erinnert sich Italien immer wieder daran, daß es selbst bis in die jüngste Vergangenheit ein Auswanderungsland war - und daß heute Millionen von italienischstämmigen Südamerikanern an die Erwerbung der italienischen Staatsbürgerschaft denken, um auf diesem Wege in die EG zu kommen. Also darf und kann man nicht so tun, als sei man etwa die Schweiz. Wie jedoch eine andere, eine italienische Lösung aussehen soll, ist noch unklar - aber nach der großen und wirklich bunten römischen Demonstration sind die Immigranten und ihre solidarischen Freunde wenigstens gut sichtbar geworden und man wird nicht so leicht über ihre Köpfe hinweg entscheiden können.